Nur eines wurde immer stärker in mir: die Gereiztheit. Wenn mir jemand ins Gehege kam, wenn er auch nur meine Haut streifte, wenn ich beim Marschieren aus dem Schritt fiel (was oft vorkam) und mir jemand von hinten auf die Ferse trat, ich hätte ihn, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, kurzerhand da auf der Stelle umbringen können – hätte ich es gekonnt, versteht sich, und hätte ich nicht, noch ehe ich die Hand gehoben hatte, bereits vergessen gehabt, was ich eigentlich wollte. Auch mit Bandi Citrom geriet ich hin und wieder aneinander: Ich «ließe mich gehen», ich fiele dem Kommando zur Last, ich stürzte alle ins Verderben, ich würde ihm noch meine Krätze anhängen – dergleichen warf er mir vor. Aber vor allem schien es, als würde ich ihn in einer bestimmten Hinsicht in Verlegenheit bringen, ihn irgendwie stören. Ich bemerkte es, als er mich eines Abends zu den Waschtrögen abschleppte. Ich strampelte und wehrte mich vergeblich, er zerrte mir mit Gewalt meine Kluft vom Leib, vergeblich versuchte ich, mit der Faust seinen Körper, sein Gesicht zu treffen, er rieb mir die fröstelnde Haut mit kaltem Wasser ab. Ich sagte ihm hundertmal, er belästige mich mit seiner Bevormundung, er solle mich in Ruhe lassen, sich verpissen. Ob ich denn hier verrecken, ob ich vielleicht nie wieder nach Hause wolle, fragte er, und ich weiß nicht, welche Antwort er aus meinem Gesicht gelesen haben mag, aber auf dem seinen sah ich plötzlich so etwas wie Bestürzung, eine Art Erschrecken, die Art, mit der man im Allgemeinen hoffnungslose Unglücksvögel, Verurteilte oder, sagen wir, Verseuchte anschaut: Da ist mir dann auch wieder eingefallen, wie er sich einmal über die Muselmänner geäußert hatte. Auf jeden Fall mied er mich von da an eher, wie ich sah, und ich meinerseits war nun auch diese Belastung los.
Von meinem Knie hingegen konnte ich mich in keiner Weise befreien, dieser Schmerz war fortwährend da. Nach einigen Tagen habe ich es mir schließlich auch angeschaut und, obwohl ich von meinem Körper schon allerhand gewöhnt war, es doch vorgezogen, diesen brandroten Sack, in den sich mein Knie ringsum verwandelt hatte, lieber gleich wieder vor meinen Blicken zu verstecken. Ich wusste natürlich sehr wohl, dass es in unserem Lager auch ein Krankenrevier gab, aber erstens fiel die Sprechstunde ausgerechnet in die Zeit des Abendessens, das mir nun doch wichtiger schien, als geheilt zu werden, und dann trugen die eine oder andere Erfahrung, mancherlei Orts- und Lebenskunde auch nicht gerade viel zum Vertrauen bei. Nun ja, und dann war es auch weit: zwei Zelte weiter, und so lange Wege unternahm ich, wenn es nicht unbedingt sein musste, nur noch ungern, schon weil mir das Knie nun bereits ziemlich wehtat. Schließlich haben mich Bandi Citrom und einer unserer Schlafgenossen dennoch mitgenommen, indem sie mit ihren Händen einen Sitz bildeten, so in der Art wie beim «Der Storch trägt sein Junges»-Spiel, und nachdem sie mich auf einem Tisch abgesetzt hatten, wurde ich gleich im voraus gewarnt: Es würde wahrscheinlich wehtun, weil ein sofortiger Eingriff unvermeidlich sei, man aber mangels Betäubungsmitteln gezwungen sei, ihn einfach so durchzuführen. So viel konnte ich zwischendurch beobachten: Man brachte mir mit dem Messer kreuzweise zwei Schnitte am Knie an, durch die man dann eine Unmenge Zeug aus meinem Schenkel herauspresste, worauf man das Ganze mit Papier verband. Darauf brachte ich auch gleich das Abendessen zur Sprache, und man versicherte mir: Alles Nötige werde geschehen, und das konnte ich dann auch bald erleben, in der Tat. Die Suppe war diesmal aus Futterrüben und Kohlrabi gekocht, was ich sehr mag, und für das Revier war offensichtlich aus der Einlage geschöpft worden, womit ich ebenfalls zufrieden sein konnte. Die Nacht verbrachte ich dort, im Revierzelt, in der obersten Etage einer Box, noch dazu ganz allein, und unangenehm war höchstens, dass ich zur gewohnten Stunde des Durchfalls das Bein nicht benutzen konnte und auch vergebens – zuerst flüsternd, dann laut, dann schon brüllend – um Hilfe nachsuchte. Am folgenden Morgen haben sie dann zusammen mit etlichen anderen Körpern auch den meinen auf das nasse Blech eines offenen Lastwagens geschmissen, und ich wurde in eine nahegelegene Ortschaft, die, wenn ich es richtig verstanden habe, «Gleina» hieß, transportiert, wo das eigentliche Krankenhaus unseres Lagers war. Hinten, auf einem hübschen Klappsitzstuhl sitzend, auf den Knien das von Nässe glänzende Gewehr, passte ein Soldat während der Fahrt auf uns auf, mit einer offensichtlich unangenehm berührten, unwirschen Miene, wohl wegen eines plötzlichen Geruchs, eines nicht vermeidbaren Anblicks, manchmal rümpfte er auch angeekelt die Nase – mit einigem Recht, wie ich zugeben musste. Vor allem kränkte mich, dass er sich irgendein Urteil zu bilden schien, anscheinend zu einer weitverbreiteten Schlussfolgerung gekommen war, und ich hätte mich gern gerechtfertigt: Ich bin schließlich nicht allein daran schuld, ursprünglich ist das eigentlich nicht meine Natur – nur wäre es schwierig gewesen, das zu beweisen, das sah ich ein, natürlich. Als wir dann angekommen waren, musste ich den plötzlich auf mich gerichteten und mir unerbittlich nachsetzenden Wasserstrahl eines Gummischlauchs, einer Art Gartenschlauch, über mich ergehen lassen, womit dann alles, die restlichen Lumpen, der Dreck, aber auch der Papierverband, von mir abgewaschen wurde. Dann aber brachten sie mich in einen Raum, in dem ich ein Hemd und von einem zweistöckigen Bretterbett das untere zugewiesen bekam, und da durfte ich mich auf einen zwar – vermutlich von meinem Vorgänger – schon ziemlich hartgelegenen, ziemlich flachgeklopften und -gedrückten, da und dort mit verdächtigen Flecken, verdächtig riechenden und verdächtig knisternden Verfärbungen verzierten, aber immerhin freien Strohsack legen, wo man es dann endlich ganz mir überließ, wie ich die Zeit verbringen wollte, und wo ich, vor allem, endlich einmal richtig ausschlafen konnte.
Wir nehmen unsere alten Gewohnheiten anscheinend stets an neue Orte mit: Ich muss sagen, auch ich hatte im Krankenhaus anfangs mit zahlreichen eingefleischten, festgefahrenen Gewohnheiten zu kämpfen. Da war zum Beispiel die Sache mit dem Gewissen: In der ersten Zeit weckte es mich jeweils pünktlich am frühen Morgen. Ein andermal schreckte ich auf, weil mir war, als hätte ich den Appell verpasst, sie suchten mich draußen schon, und mit nur langsam abflauendem Herzklopfen nahm ich den Irrtum zur Kenntnis und erfasste den sich mir darbietenden Anblick, das Zeugnis der Wirklichkeit, dass ich ja gewissermaßen zu Hause war, alles in Ordnung, da stöhnt jemand ein bisschen, weiter weg unterhalten sich zwei, dort schaut jemand seltsam stumm und mit spitzer Nase, starren Augen und offenem Mund zur Decke, nur meine Wunde tut weh, nun, und höchstens bin ich – wie immer – durstig, wahrscheinlich wohl wegen des Fiebers. Kurz und gut, ich brauchte etwas Zeit, um es ganz zu glauben: kein Appell, ich brauche die Soldaten nicht zu sehen und vor allem nicht zur Arbeit zu gehen – und all diese Vorteile konnten, für mich jedenfalls, von keinen Begleitumständen, keinerlei Krankheit wirklich geschmälert werden. Von Zeit zu Zeit brachten sie mich auch in ein kleines Zimmer im ersten Stock hinauf, wo zwei Ärzte am Werk waren, ein jüngerer und ein älterer, dessen Patient ich war, um es so zu sagen. Es war ein dünner, schwarzhaariger, sympathischer Mann, in sauberem Anzug und Schuhen, mit einer Armbinde und mit einem richtigen, erkennbaren Gesicht, das an einen freundlichen alten Fuchs erinnerte. Er fragte mich, woher ich komme, und erzählte, dass er aus Siebenbürgen stamme. Unterdessen hatte er mir schon den auseinanderfallenden, in der Gegend meines Knies bereits wieder verhärteten und gelbgrün gewordenen Papierwickel abgerissen, stützte sich mit beiden Händen auf meinen Schenkel und presste heraus, was sich dort in der Zwischenzeit angesammelt hatte, und zum Schluss stopfte er mir mit einer Art Häkelnadel zusammengerollte Gazestücke zwischen Haut und Fleisch, um, so erklärte er, «den Fluss aufrechtzuerhalten», für den «Reinigungsprozess», damit die Wunde nicht etwa vor der Zeit verheile. Ich für meinen Teil hörte das ganz gern, schließlich hatte ich draußen nichts verloren, von mir aus war die Heilung gar nicht so dringend, wenn ich es recht bedachte, verständlicherweise. Etwas weniger nach meinem Geschmack war eine weitere Beobachtung von ihm. Er hielt das Loch in meinem Knie für nicht ausreichend. Seiner Ansicht nach sollte auch seitlich noch ein Schnitt angebracht werden und dieser, mit Hilfe eines dritten Schnittes, mit dem ersten verbunden werden. Er fragte, ob ich dafür zu haben wäre, und ich war ganz erstaunt, denn er sah mich an wie jemand, der tatsächlich auf meine Antwort, vielleicht sogar auf meine Einwilligung, um nicht zu sagen meine Ermächtigung wartete. Ich sagte: «Wie Sie meinen», und darauf befand er, es wäre am besten, wenn er sich unverzüglich ans Werk machte. Das hat er dann auch auf der Stelle getan, nur konnte ich nicht umhin, mich etwas laut zu benehmen, und das, so sah ich, war ihm unbehaglich. Er bemerkte auch mehrmals: «So kann ich nicht arbeiten», und ich versuchte mich zu verteidigen: «Ich kann nichts dafür.» Nachdem er einige Zentimeter vorangekommen war, hat er dann aufgehört, ohne sein Vorhaben in vollem Umfang ausgeführt zu haben. Aber auch so schien er leidlich zufrieden, denn er bemerkte: «Immerhin etwas», weil er mir von nun an wenigstens an zwei Stellen Eiter abzapfen konnte, wie er sagte.
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