Auch im Bad (wir fanden es, links abbiegend, hinter einem weiteren Gitterzaun und einem weiteren Gittertor, auf einem Hof) konnte ich sehen, dass sie schon auf uns vorbereitet waren, sie erklärten alles bereitwillig und weit im voraus. Zunächst sind wir in eine Art Vorraum mit Steinfußboden gekommen. Darin waren schon recht viele Leute, unter denen ich solche aus unserem Zug erkennen konnte. So wurde mir klar, dass die Arbeit anscheinend unablässig vonstatten ging, dass sie die Leute offenbar in einer Gruppe nach der anderen vom Bahnhof zum Baden brachten. Auch hier ging uns ein Sträfling zur Hand, ein – so musste ich feststellen – ganz feiner Gefangener. Auch er trug zwar den gestreiften Sträflingsanzug, nur hatte der wattierte Schultern und war tailliert, ja, ich darf es so sagen: nach bester, beinahe schon auffälliger Mode geschnitten und gebügelt, und zudem trug er säuberlich gekämmtes, schwarzglänzendes Haar, so wie wir freien Leute. Er empfing uns stehend, am anderen Ende des Raums, rechter Hand von einem Soldaten, der seinerseits hinter einem Tischchen Platz genommen hatte. Dieser selbst war winzig klein, von gemütlichem Äußeren und recht dick, mit einem Bauch, der schon am Hals anfing, des weiteren mit einem Kinn, das sich ringsum in Falten über den Kragen legte, und zwei lustigen Augenschlitzen in dem faltigen, bartlosen gelben Gesicht: Er erinnerte ein wenig an so eine Art von Zwergen, wie man sie am Bahnhof unter uns gesucht hatte. Dabei trug er eine stattliche Mütze auf dem Kopf, vor ihm auf dem Tisch lag eine funkelnagelneue Aktentasche, daneben eine aus weißem Leder geflochtene und, wie ich im Übrigen zugeben musste, sehr schön gearbeitete Peitsche, ganz offensichtlich sein persönliches Eigentum. All das konnte ich durch die Lücken zwischen den vielen Schultern und Köpfen hindurch bequem beobachten, während auch wir neu Hinzugekommenen uns bemühten, ein Plätzchen zu finden, uns in dem jetzt bereits überfüllten Raum einzurichten. Währenddessen huschte der Sträfling durch eine gegenüberliegende Tür schnell hinaus und gleich wieder herein, um dann dem Soldaten etwas mitzuteilen, sehr vertraulich, fast ganz an sein Ohr gebeugt. Der Soldat schien zufrieden, und sogleich war auch seine dünne, scharfe und atemlose, eher an ein Kind oder vielleicht an eine Frau erinnernde Stimme zu vernehmen, wie er dem Sträfling in ein paar Sätzen antwortete. Darauf richtete sich dann der Sträfling auf, hob eine Hand und bat uns nun auf einmal um «Ruhe und Aufmerksamkeit» – und da habe ich zum ersten Mal auch meinerseits jene oft beschworene Erfahrung gemacht, welche unerwartete Freude es bedeutet, in der Fremde die heimatlichen Klänge der ungarischen Sprache zu vernehmen: Ich stand also einem Landsmann gegenüber. Ich hatte dann auch gleich ein bisschen Mitleid mit ihm, denn wie ich sehen konnte, war er ein noch ganz junger, intelligenter und, obwohl ein Sträfling, gewinnend aussehender Mann, wie ich zugeben musste, und ich hätte große Lust gehabt, von ihm zu erfahren, woher und wie und um welchen Vergehens willen er wohl in Gefangenschaft geraten war; doch vorläufig ließ er uns nur wissen, dass er uns über die nun folgenden Verrichtungen zu informieren und die Wünsche des «Herrn Oberscharführers» an uns weiterzuleiten gedenke. Wenn auch wir uns Mühe gäben, wie man es im Übrigen nicht anders von uns erwarte – so fügte er hinzu –, dann würde alles «rasch und reibungslos» vonstatten gehen, was seines Erachtens zwar hauptsächlich in unserem Interesse liege, doch, so versicherte er, gleichzeitig auch dem Wunsch des «Herrn Ober» entspreche – wie er ihn jetzt schon, von der offiziellen Bezeichnung etwas abweichend, kürzer und nach meinem Empfinden auch irgendwie vertraulicher nannte.
Dann haben wir von ihm ein paar einfache, in dieser Situation selbstverständliche Dinge erfahren, während der Soldat seine Worte – es waren schließlich die Worte eines Sträflings – mit lebhaftem Nicken guthieß, sie für uns gewissermaßen beglaubigte, sein freundliches Gesicht, seine fröhlichen Augen dabei einmal ihm, einmal uns zuwendend. Wir konnten zum Beispiel erfahren, dass wir uns im folgenden Raum, nämlich dem «Auskleideraum», ausziehen und alle unsere Kleider an den dort befindlichen Haken aufzuhängen hatten. An den Haken würden wir Nummern vorfinden. Während wir badeten, würden unsere Kleider desinfiziert. Es sei nun wohl gar nicht nötig – so befand er, und meiner Ansicht nach hatte er recht –, uns extra zu erklären, warum es so wichtig sei, dass sich ein jeder die Nummer seines Kleiderhakens gut merke. Es fiel mir auch nicht schwer, den Nutzen jenes Vorschlags einzusehen, demgemäß es «ratsam» war, unsere Schuhe paarweise zusammenzubinden, «um jeglicher Verwechslung vorzubeugen», fügte er hinzu. Darauf würden sich, so versprach er, Friseure um uns kümmern, und dann endlich konnte das Bad folgen.
Zuvor aber – so fuhr er fort – sollten diejenigen vortreten, die noch Geld, Gold, Edelsteine oder sonstige Wertsachen bei sich hätten, und diese beim «Herrn Ober hinterlegen», da es die letzte Gelegenheit sei, sich der Sachen «noch ungestraft zu entledigen». Wie er nämlich erklärte, war der Handel, jeglicher An- und Verkauf und demzufolge auch der Besitz und das Einführen von Wertsachen strengstens verboten im «Lager» – diesen für mich neuen, doch sogleich leichtverständlichen Ausdruck hat er verwendet. Nach dem Bad würde jede Person «geröntgt», und zwar mit einem «eigens für diesen Zweck bereitgestellten Röntgenapparat» – so haben wir von ihm erfahren, und auch der Soldat hat mit betontem Kopfnicken, auffallend guter Laune und unmissverständlicher Zustimmung dem Wort «Röntgen», das er ja gewiss verstand, Nachdruck verliehen. Es kam mir wieder in den Sinn: Offenbar war das, was der Gendarm im Zug uns gesagt hatte, also doch richtig gewesen. Von sich aus, so sagte der Sträfling, könne er noch so viel hinzufügen, dass ein jeglicher Schmuggelversuch, mit dem sich die Schuldigen im Übrigen «die allerschwerste Strafe» zuziehen, wir alle jedoch unsere Ehre vor der deutschen Behörde aufs Spiel setzen würden, seiner Meinung nach «aussichts- und sinnlos» sei. Ohne Zweifel, auch wenn mich die Frage nicht weiter berührte, so fand ich doch, dass er recht haben mochte. Es ist eine kleine Stille entstanden, eine, nach meinem Empfinden, gegen Ende irgendwie fast schon ungemütliche Stille. Dann eine Unruhe vorn: Jemand ließ sich Platz machen, darauf hat sich ein Mann von der Gruppe gelöst, hat etwas auf den Tisch gelegt und ist eilig wieder zurückgetreten. Der Soldat hat etwas zu ihm gesagt: Es klang lobend. Den Gegenstand – etwas ganz Kleines, ich konnte es von meinem Platz aus nicht recht sehen – hat er gleich in der Schublade verschwinden lassen, nachdem er ihn vorher noch angeschaut, mit einem flüchtigen Blick gewissermaßen eingeschätzt hatte. Wie mir schien, war er zufrieden. Dann wieder eine Pause, aber kürzer als die vorherige, dann wieder Unruhe und wieder ein Mann, und dann traten sie ohne Unterbrechung, immer mutiger und immer zahlreicher vor, folgten einander zum Tisch und legten glänzende oder hart tönende, aufklingende oder raschelnde Gegenstände dorthin, auf den kleinen freien Platz zwischen der Peitsche und der Aktentasche. All das – abgesehen vom Geräusch der Schritte und der Gegenstände, nun und dann von den kurzen, hohen, gutgelaunt und ermutigend klingenden Äußerungen, die der Soldat jedes Mal machte – ist in völliger Stille vor sich gegangen. Ich habe auch bemerkt, dass der Soldat bei jedem einzelnen Gegenstand das gleiche Verfahren anwandte. So begutachtete er, selbst wenn ihm jemand gleich zwei Gegenstände hinlegte, trotzdem – zuweilen unter befriedigtem Kopfnicken – zuerst den einen, zog eigens dafür die Schublade heraus, legte ihn einzeln hinein, schob dann, zumeist mit dem Bauch, die Schublade wieder zu, um zum nächsten Stück überzugehen und mit ihm genau das Gleiche zu wiederholen. Ich war ganz verblüfft, was da noch alles zum Vorschein kam, nach der Gendarmerie, wenn man es bedenkt. Aber auch diese Eile, dieser plötzliche Eifer der Leute hat mich ein wenig überrascht, nachdem sie doch bis dahin allerhand Beschwerlichkeiten auf sich genommen hatten, allerhand Sorgen, die ja mit dem Besitz dieser Gegenstände einhergegangen waren. Deshalb konnte ich wohl bei fast jedem, der vom Tisch zurückkam, den gleichen, etwas verschämten, etwas feierlichen, aber insgesamt gewissermaßen erleichterten Gesichtsausdruck sehen. Nun ja, und dann standen wir doch schließlich an der Schwelle zu einem neuen Leben, und ich sah ein, dass das letztlich eine ganz andere Situation war als auf der Gendarmerie, natürlich. Das Ganze, der ganze Vorfall, hat ungefähr so drei bis vier Minuten beansprucht, wenn ich genau sein wollte.
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