Constance nickte. »Sie wollte ein bißchen lesen. Soll ich mitkommen?«
»Danke, aber ich glaube, es ist besser, ich gehe alleine.«
Langsam ging Brett am Bibliothekstisch vorbei. Es schien Stunden zu dauern, bis sie die Treppe bewältigt hatte; nie hatte sie einen längeren und schwereren Gang angetreten. Ihre Hand zitterte, als sie an die Tür klopfte.
»Komm rein!« rief Madeline fröhlich.
Geh, dachte Brett. Es wurde ein lautloser Aufschrei. Geh! Sie wollte wegrennen.
»Wer ist denn da?«
Mit raschelnden Unterröcken kam Madeline zur Tür und öffnete sie. Ihren Zeigefinger hielt sie in einem schmalen Goldbändchen. Heute trug sie eines ihrer Lieblingskleider aus so tiefblauer Seide, daß es fast schwarz wirkte.
»Brett! Komm doch herein! Ich habe gerade einige von Poes Gedichten gelesen. Eins davon ist Orrys Lieblings… aber Liebes, was ist denn passiert?« Erst jetzt bemerkte sie, daß Brett geweint hatte. »Geht es Billy wieder schlechter?«
»Es ist nicht Billy. Es ist Orry.«
Madelines dunkle Augen weiteten sich angstvoll. Sie nahm ihren Finger aus dem Buch und hielt es sich wie einen Schild vor die Brust. Sie entdeckte den Brief in Bretts Hand.
»Gibt es in Richmond irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Orry ist nicht – war nicht – in Richmond. Der Brief ist von George. Eine sehr schlimme Nachricht.«
Mit gekünstelt skeptischem Blick nahm Madeline den Brief zur sonnenhellen Fensternische. Sie beendete die erste Seite und begann die zweite zu lesen. Als erstes Anzeichen einer Reaktion lief ein Zittern über ihre Schultern.
Ihr Kopf flog herum. Ärgerlich sagte sie: »Die Petersburg-Linien? Wie soll er zu den Petersburg-Linien gekommen sein?«
»Ich wollte, ich wüßte es.«
Madeline zwang ihren Blick zurück auf den Brief. Brett sah ihr Profil, sah das Glitzern einer Träne. Das Buch fiel aus Madelines Hand. Ihre Finger knüllten den Brief zusammen. »Orry!« schrie sie auf und sank in einem Gewühl von Seide und Petticoats zusammen.
»Kathleen!« rief Brett in den Flur. »Kathleen, das Salmiakfläschchen! Schnell!«
Brett wirbelte wieder herum. Madeline lag auf dem Perserteppich, schon wieder aus kurzer Ohnmacht erwacht, traf aber keine Anstalten, sich zu erheben. Sie lag auf der Seite, ungeschickt auf beide Hände gestützt. Sie zitterte, ihr Mund stand halb offen. Sie sah Brett an, ohne jedes Erkennen.
Brett fühlte sich wie gelähmt, konnte nicht mal sprechen. Billy war verschont geblieben, aber ihr Bruder war tot. Der Schmerz war gnadenlos. Um wieviel schlimmer mußte es für Madeline sein. Woher sollte sie die Kraft zum Weiterleben nehmen?
124
Charles erwachte am frühen Sonntagmorgen, dem 19. Februar. Er hatte von Gus geträumt.
Er ging hinunter zum Fluß. Überall herrschte erwartungsvolle Stille, seit gestern schon, als die wildesten Gerüchte im Fluß-Bezirk herumzuschwirren begannen. Gerüchte, daß in der vorletzten Nacht Columbia niedergebrannt worden sei.
Gegen Mittag fuhr eine heruntergekommene Kutsche in den Hof. Der Fahrer war Markham Bull, Nachbar und Mitglied der großen, angesehenen Bull-Familie. Markham, ungefähr fünfundfünfzig, befand sich in heller Aufregung. Er war in Columbia gewesen, als Sherman eintraf. In den Wirren nach dem Großbrand Freitagnacht war er mit knapper Not entkommen.
»Die Stadt ist praktisch verschwunden. Die verfluchten Yankees behaupten, Wade Hampton habe das erste Streichholz entzündet, um die Baumwolle anzustecken, damit sie dem Feind nicht in die Hände fiel. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie Shermans Männer gewütet haben. Im Vergleich dazu waren die Goten und Vandalen von ausgesuchter Höflichkeit. Sie haben sogar Millwood niedergebrannt.«
Charles zog die Augenbrauen hoch. »Hamptons Millwood?«
»Jawohl. All seine Familienporträts, seine herrliche Bibliothek, alles vernichtet.«
»Wo ist der General jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Ich hörte, er habe vor, westlich vom Mississippi weiterzukämpfen, aber das muß nicht stimmen.«
Im Laufe des Tages verringerte sich die Anzahl der Nachzügler auf der Straße. Die Sonne versteckte sich hinter einer leichten Wolkendecke. Charles polierte seinen Degen. Gegen vier Uhr funkelte die Klinge fast wieder wie neu. Eine Krähe krächzte irgendwo am Fluß hinter dem Haus. Jetzt erst fiel ihm auf, daß er während der letzten Stunde eine ganze Menge Krähenschreie gehört hatte.
Gegen fünf tauchte Cooper wieder auf, mit grauem, angespannten Gesicht. »Charles, du kommst besser rein.«
In der Bibliothek traf er Andy und einen aufgeregten, schwitzenden zwölfjährigen Negerjungen. »Das ist Jarvis, Marthas Sohn«, erklärte Cooper seinem Cousin. »Erzähl uns noch mal, was du gesehen hast, Jarvis.«
»Ich sah ‘ne Bande weißer und schwarzer Männer im Sumpf, Meile hinter den Hütten. Kommen die Richtung.«
»Wieviel sind eine Bande?« fragte Charles.
»Vierzig. Vielleicht fünfzig. Haben Gewehre. Aber viel Lachen, ganz sicher keine Eile. Ein Negerkerl, war fett wie Waschbär im Sommer. Reitet altes Muli, singt und macht viel Spaß mit allen.«
Andy machte ein finsteres Gesicht. »Muß dieser verdammte Cuffey sein.«
»Danke«, sagte Charles zu dem Jungen.
Cooper sagte: »Möchte wissen, wann sie kommen.«
»Ich an Cuffeys Stelle«, sagte Charles, »würde bis morgen früh warten, wenn wir alle von der Nachtwache hundemüde sind.«
Andy zögerte. »Wäre vielleicht sinnvoller, zusammenzupacken und zu verschwinden, Mr. Cooper.«
»Nein«, sagte Cooper mit so fester, ruhiger Stimme, daß Charles ganz überrascht war. »Dies ist mein Zuhause. Meine Familie erbaute Mont Royal, und ohne Kampf gebe ich es nicht verloren.«
»Das deckt sich mit meinen Empfindungen«, sagte Charles. Er brachte ein müdes Lächeln zustande. »Nicht sonderlich intelligent, aber nichtsdestoweniger meine Empfindungen.«
Jane, die vor einiger Zeit in die Bibliothek gekommen war, sagte: »Und die anderen sollen ihr Leben riskieren, um einen Ort zu verteidigen, wo ihr sie wie lebenden Besitz gehalten habt?«
»Jane«, begann Andy und trat einen Schritt vor. Sie ignorierte ihn.
Cooper starrte sie finster an, brachte aber seine Gefühle schnell wieder unter Kontrolle. »Niemand wird gezwungen zu bleiben. Weder Sie noch sonst einer der Leute.«
»Aber die meisten werden bleiben«, sagte Andy. »Ich bleibe. Es gibt einige gute Dinge auf Mont Royal.«
»Sie können uns später belehren, Miss Jane«, sagte Charles mit fast zu scharfer Stimme, weil er ihr insgeheim zustimmte. »Jetzt müssen wir erst mal die Männer zusammenrufen.«
»Und die Frauen und Kinder an einen sicheren Ort schaffen«, fügte Cooper hinzu. »Andy, fängst du damit an?«
Andy nickte, nahm Janes Arm und führte sie aus der Bibliothek. Der Griff war etwas zu fest für ihren Geschmack, und sie riß sich los. Charles konnte sie streiten hören, als sie das Haus verließen.
Cooper warf seinem Cousin einen düsteren Blick zu. »Wir sind in einer schlimmen Lage, was?«
»Ich fürchte schon. Die Anzahl spricht gegen uns. Bestenfalls könnten wir einen alten Indianertrick probieren, den ich in Texas gelernt habe.« Stirnrunzelnd betrachtete er den Degen, den er von draußen mitgebracht hatte.
Er merkte, daß Cooper darauf wartete, daß er weitersprach. »Töte den Anführer, dann kehrt manchmal der restliche Kriegstrupp um.«
Cooper zog die Unterlippe hoch. »Ziemlich schwache Hoffnung.«
»Stimmt. Aber haben wir eine andere?«
»Zusammenpacken und verschwinden.«
»Ich dachte, du sagtest – «
»Das hab’ ich auch. Ich möchte diesen Ort hier retten, nicht nur aus sentimentalen Gründen. Ich denke, nach der Kapitulation werden wir ihn zum Überleben dringend nötig haben. Verschwinden wir, dann können wir sicher sein, daß sie nichts verschonen werden.«
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