»Habe ihn aus den Augen verloren.«
»Aber du hast ihn erkannt.«
»Nein.«
»Zum Teufel mit dir.« Powell wandte Wilbur den Rücken zu, der sich den Farmerhut über die Augen zog und sich schweigend setzte.
Powell rieb sich mit den Fingerknöcheln das Kinn, dachte nach.
Einer der Verschwörer räusperte sich. »Gegen Morgen werden sie hier draußen sein, was?«
Huntoon sagte: »Vielleicht war’s bloß ein Niggerjunge, der Hühner stehlen wollte.« Er versuchte sich selbst zu beruhigen.
»Es war ein Weißer. Soviel hab’ ich gesehen«, sagte Wilbur.
»Aber vielleicht will er uns nichts Böses – «
»Bist du schwachsinnig?« sagte Powell. »Er hat sich heimlich angeschlichen. Er hat uns durch einen Spalt in dieser Wand beobachtet. Aber davon abgesehen, glaubst du ernsthaft, ich setze mich erst mal hin und warte ab, ob er harmlos ist oder nicht?«
Er schob den gedemütigten Huntoon beiseite und überflog die Klippe, das Feld, die anderen Gebäude mit prüfenden Blicken. »Wir benötigen eine vernünftige Taktik, um mit dieser Situation fertig zu werden. Wenn wir kühlen Kopf behalten, dann kommen wir ohne jede Schramme da durch.«
Voller Angst klammerte sich Ashton an ihren Glauben in Powells Intelligenz und Mut. Aber auch dieser Glauben wurde erschüttert, als er lächelnd sagte: »Als erstes müssen wir uns die Hilfe von Mr. Edgar Allan Poe sichern. Mein Lieblingsautor. Kennt jemand von euch seine Geschichte des gestohlenen Briefes?«
»Du bist ein Schwachsinniger!« – tobte Huntoon. »Jetzt von irgendeinem billigen Schreiberling zu reden.«
Ausnahmsweise war Ashton insgeheim auf Seiten ihres Mannes. Ihr Geliebter gab keinerlei Erklärung ab, sondern stieß Huntoon ein zweitesmal beiseite und ging lachend an ihm vorbei.
Bei Tageslicht marschierte Orry zu Minister Seddons Residenz hoch und betätigte den Klopfer so kräftig, daß er damit wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft weckte. Innerhalb von Minuten wurde der mürrische Winder herbeizitiert. Nach seinem Erscheinen leistete er eine halbe Stunde lang Widerstand – Orry gehörte schließlich nicht gerade zu den Kollegen, denen er bedingungslos vertraute –, gab dann aber unter Druck von Seddon nach. Vor Mittag noch würde er Männer nach Wilton’s Bluff schicken.
»Ich werde sofort zum Präsidenten gehen«, sagte der Minister, nachdem er sich vom Schock erholt hatte. »Alle Kabinettsmitglieder werden gewarnt. Inzwischen steht Ihnen, Colonel Main, das Privileg zu, das Netz für den größten Fisch auszuwerfen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sir.«
Einige Minuten nach zehn raste eine geschlossene Kutsche nach Church Hill und bog in die Franklin Street ein. Orry sprang hinaus und führte einen bewaffneten Trupp die Eingangsstufen hoch. Ein zweiter Trupp hatte sich bereits im Garten postiert.
Die Eingangstür bot keinen Widerstand. Verblüfft sagte er zu seinen Männern: »Sie ist unverschlossen.«
Die Inneneinrichtung war unberührt, aber Kleidung und persönlicher Besitz fehlten.
Lamar Powell war verschwunden.
An diesem Abend kam ein zweiter Schock, und zwar drinnen in Winders Heiligtum.
»Ich habe nichts gefunden«, sagte Winder. »Kein Anzeichen, daß jemand dort gewesen ist. Und vor allem keine Spur der Waffenkisten, von denen Sie berichteten, Colonel. Meiner Meinung nach ist seit Monaten niemand mehr dort gewesen. Die Nachbarn, die ich befragt hab’, sind der gleichen Ansicht.«
Orry sprang auf. »Das kann nicht sein.«
Feindselig sagte der andere Mann: »Wirklich? Nun«, eine spöttische Geste zur Tür, »befragen Sie die beiden Detektive, die ich mitgenommen habe. Sie haben meinen Bericht gehört. Wenn er Ihnen nicht paßt, reiten Sie zurück, und machen Sie Ihren eigenen Bericht.«
»Bei Gott, das werd’ ich«, sagte Orry, als Israel Quincy ans Fenster trat und den Sonnenuntergang betrachtete.
Orry, der sein kärgliches Abendessen aus Reis und Maisbrot nicht angerührt hatte, sagte zu Madeline: »Quincy ist gekauft worden. Winder auch, soweit ich das beurteilen kann. Mrs. Halloran ist unbeabsichtigt über eine Verschwörung gestolpert, die sich bis in höchste Kreise zieht. Ich beabsichtige herauszufinden, bis wohin.« Am frühen Abend hatte er die Farm noch einmal persönlich abgesucht und nicht die geringste Spur entdecken können.
»Aber der Präsident ist jetzt in Sicherheit, nicht wahr? Er ist gewarnt worden.«
»Ja, aber ich muß es trotzdem herausfinden. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich gerade jetzt Seddon und seine Frau Gedanken über meinen Geisteszustand machen würde. Bin ich ein Trunkenbold? Nehme ich Opium? Hatte ich Visionen auf der Farm? Ich schwöre dir«, er ging um den Tisch herum zu ihr, »nichts davon trifft zu.«
»Ich glaube dir, Liebster. Aber was kannst du tun? Es scheint so, als wäre der Fall an einem einzigen Tag aufgetaucht und wieder verschwunden.«
»Für mich nicht. Und ich kenne jemanden, der auf der Farm war. Sie ist immer noch in Richmond – das habe ich überprüft. Gleich morgen früh werde ich mich um meine Schwester kümmern.«
Aber dazu kam es nicht. Um halb elf läutete es. Orry rannte nach unten. Es mußte für ihn sein; die Vermieterin empfing nie so spät noch Besuch.
Über und über mit Schmutz bedeckt stand Charles vor ihm; wie ein Berggipfel über Wolken ragte sein Kopf aus dem Zigarrenqualm heraus.
»Dein Brief hat einen Umweg über Atlee’s Station gemacht, aber endlich hab’ ich ihn doch noch bekommen. Ich bin hier, um was für Billy zu tun.«
100
Stephen Mallory kam am gleichen Abend in Charleston an, nach einer beschwerlichen Fahrt in einem der dreckigen, ungeheizten Wagen der allmählich verrottenden Südstaaten-Eisenbahn. Eine telegraphische Nachricht von Lucius Chickering hatte ihn auf den Weg gebracht.
Cooper wußte davon nichts. Nach dem Vorfall in der Meeting Street hatten ihn Soldaten der Militärpolizei nicht gerade übertrieben sanft heimgeschafft, und seitdem hatte er das Bett nicht mehr verlassen, hatte sich nicht bewegt, nicht gesprochen, das Essen nicht berührt, das Judith ihm brachte.
Cooper drehte seinen Kopf um ein paar Millimeter, als Judith die Tür öffnete, nachdem sie sanft geklopft hatte.
»Liebling? Du hast einen Besucher. Dein Freund Stephen. Der Minister.«
Er sagte nichts, lag nur unter den für das milde Wetter zu dicken Decken.
»Könnte ich einen Moment mit ihm allein sein, Judith?«
Sie betrachtete ihren Mann. Seine Augen waren rund und leer, wie jeden Tag. Sorgfältig verbarg sie ihren Schmerz vor dem Besucher.
»Natürlich. Wenn Sie mich brauchen, auf dem Tisch dort ist eine kleine Handglocke.«
Mallory nickte und zog sich einen Stuhl neben das Bett. Er setzte sich. Judith schloß die Tür.
Der Minister starrte seinen Assistenten an. Coopers Augen waren auf die Zimmerdecke gerichtet. Mallory begann mit der Abruptheit eines Gewehrschusses.
»Es heißt, du bist erledigt. Stimmt das?«
Seiner Stimme fehlte der übliche, süßliche Krankenzimmertonfall. Cooper zwinkerte einmal, rührte sich aber nicht.
»Hör zu, Cooper. Wenn du mich verstehst, dann bring wenigstens die Höflichkeit auf, mir in die Augen zu schauen. Ich habe nicht den weiten Weg von Richmond gemacht, um mich mit einer Leiche zu unterhalten.«
Langsam kippte Coopers Kopf in Richtung des Besuchers, die Wange ruhte auf dem Kissen, dünnes, graues Haar breitete sich darüber. Aber die Augen blieben leer.
Hartnäckig fuhr Mallory fort: »Das war skandalös, was du da getan hast. Skandalös, es gibt kein anderes Wort dafür. Der Feind hält uns bereits für eine Nation von Barbaren – bedauerlich, aber nicht ganz ungerechtfertigt. Doch wenn sich ein Regierungsbeamter wie ein wahnsinnig gewordener Gefängniswärter aufführt, noch dazu in aller Öffentlichkeit…« Er schüttelte den Kopf. »Du hast unserer Sache geschadet, Cooper, und du hast dir selbst geschadet.«
Читать дальше