Am gleichen Aprilabend näherte sich Orry der Farm, deren Lageskizze ihm Mrs. Halloran aufgezeichnet hatte. Dünne Wolken verschleierten Mond und Sterne. Das erleichterte es ihm, die ungepflügten Felder zu überqueren, wie seine Informantin es vorgeschlagen hatte.
In einiger Entfernung band er sein Pferd an einen Baum. Der Nachtwind trug ihm ein Schnauben zu. Mit dem Handrücken fuhr er sich über die feuchte Oberlippe und ging langsam und leise in Richtung des erleuchteten Gebäudes.
Es gab keine Deckung, keine Möglichkeit, sich ungesehen zu nähern, außer man kroch. Auf halbem Weg glaubte er ein Streichholz jenseits des Hauses aufflackern zu sehen, ein gutes Stück zu seiner Linken. Eine Wache auf der Straße? Mehr als wahrscheinlich.
Jetzt hörte er das sanfte Stampfen der Pferde. Ein Streifen dichten, hohen Grases trennte das Gebäude von dem Feldrand, wo er kauerte und die Tiere zählte: vier Sattelpferde; ein Tier stand vor einem Einspänner. Wenn man davon ausging, dann war Mr. Lamar Powells Revolutionsarmee nicht gerade überwältigend. Aber Orry hatte als Junge seinen Julius Caesar gelesen und wußte, daß keine Heerscharen nötig waren, um einen politischen Mord zu begehen.
Geduckt kroch er auf das Licht zu; das Unkraut raschelte und knisterte. Auf halbem Weg zur Mauer hörte er gedämpfte Unterhaltung. Einen Augenblick lang traute er seinen Sinnen nicht: Zwischen den männlichen Stimmen hörte er eine Frauenstimme heraus.
Vor lauter Überraschung verlagerte er sein Gewicht zu schnell. Mit lautem Knacken zerbrach sein rechter Stiefel einen Zweig.
»Warte, Powell. Ich glaube, ich hab’ draußen was gehört.«
»Vielleicht ein Kaninchen – oder eine Ratte. Hier wimmelt’s nur so davon.«
»Soll ich nachschauen?«
»Nicht nötig. Wilbur hält an der Straße Wache.« Die Stimme des Mannes, der als Powell angesprochen worden war, verkörperte absolute Autorität. So schnell er es wagte, kroch Orry das restliche Stück zur Wand und preßte sein Auge gegen einen Spalt.
Verdammt. Powell drehte ihm den Rücken zu. Orry konnte nichts weiter als rehfarbene Hosen, eine dunkelbraune Samtjacke und ergrauende, pomadisierte Haare sehen. Von links ragten Stiefel in Orrys Blickfeld.
»Unsere wichtigsten Waffenlieferungen sind gestern eingetroffen«, sagte Powell, ging auf einen Kistenstapel zu und drehte sich um.
Lamar Powell, Ende Dreißig, besaß ein Gesicht, das die meisten Frauen vermutlich als gutaussehend bezeichnen würden. Er posierte auf theatralische Weise, deutete auf eine rechteckige Kiste, auf die das Wort WHITWORTH aufgemalt war.
»Wie Ihr sehen könnt, sind wir mit dem Besten ausgerüstet.«
»Whitworth ist verflucht teuer«, fing einer an. Powells Augen blitzten in plötzlicher Wut auf. Der Sprecher murmelte: »Bitte um Entschuldigung.«
»Teuer schon«, stimmte Powell zu. »Aber auch die besten Scharfschützengewehre der Welt. Die .45-Kaliber-Whitworth hat auf achthundert Yards eine Abweichung von weniger als einem Fuß. Wenn nur einige wenige von uns auf den Feind zielen«, sein Mund verzog sich zu einem humorlosen Lächeln, »dann muß jeder höchste Treffsicherheit erreichen.«
Mit diesen wenigen Sätzen schaffte es Powell, Orry in Alarmzustand zu versetzen. Diesen Mann umgab, anders als die meisten Fanatiker, eine Aura der Kompetenz. Durch eigene Dummheit würde er nicht scheitern, vermutete Orry.
Powell fuhr fort: »Ich glaube nicht, daß einer von euch daran interessiert ist zu erfahren, wieviele illegale Maßnahmen – teure Bestechungen – notwendig waren, um diese Schiffsladung zu erhalten. Je weniger ihr wißt, desto sicherer seid ihr. Und so, wie die Dinge stehen, riskieren wir schon bald genug den Hanfstrick.«
»Ich habe den langen Ritt hier heraus nicht gewagt, um mir Scherze anzuhören, Lamar.«
Der Schreck ging Orry durch und durch. Die Stimme gehörte zu James Huntoon.
»Ich will zum Kern der Sache kommen«, sagte er. »Wann und wie töten wir Davis?«
Dann glaubte Orry wirklich den Verstand zu verlieren. Der nächste Sprecher, der sich an Powell wandte, war eine Frau.
»Und wer stirbt mit ihm?«
Ganz deutlich sah er, dicht neben Powell, seine Schwester Ashton.
Er mußte auch die anderen Verschwörer identifizieren. Er veränderte seine Stellung, um einen anderen Teil des Inneren überblicken zu können. Ein Mann lehnte an der Wand, zur Flußseite hin. Der Mann war ein grober, bulliger Typ, den Orry noch nie gesehen hatte.
Er legte seine Hand gegen die Wand und preßte sein anderes Auge gegen den Spalt. Die Holzverkleidung knackte unter seiner Hand. Huntoon sagte: »Draußen ist jemand.«
Powell rannte durch Orrys Blickfeld. Orry kroch zurück, während Powell brüllte: »Löscht die Laternen!«
Die senkrechten gelben Schlitze wurden schwarz. Orry sprang auf und rannte geduckt auf das Feld zu. Eine Tür ging auf. Er hörte Stimmen außerhalb des Geräteschuppens; Powells Stimme klang am lautesten.
»Wilbur? Wir brauchen dich. Wir sind ausspioniert worden.«
Orrys Brust schmerzte bereits vom Rennen. Auf halbem Weg durchs Feld hörte er ein Pferd herangaloppieren; der Reiter feuerte einen Schuß ab. Die Kugel schlug zwei Fuß links von Orry ein. Er rutschte aus, fiel auf die Knie, stieß sich wieder hoch; er erreichte sein Pferd, als sein Verfolger in der Mitte des Feldes angekommen war.
Er trieb seinen Gaul den Weg entlang, den er hergekommen war. Tiefhängende Zweige peitschten seine Wangen und seine Stirn. Der Mann hinter ihm schoß ein zweitesmal und verfehlte ihn erneut. Orry galoppierte auf die breitere Hauptstraße, die im Bogen vom Fluß wegführte. Er ließ seinen Verfolger hinter sich, atmete tief durch. Er entfernte sich von dem Ort des Schocks – ritt aber auf eine unvermeidliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen Gewissen zu. Um Mitternacht war es soweit. Madeline saß auf dem Bettrand, während er auf und ab marschierte.
Nachdem er ihr alles erzählt hatte, waren ihre ersten Worte: »Wie um alles in der Welt konnte sie in eine solche Sache geraten?«
»Im ersten Moment dachte ich, wegen James. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Außerdem spielt das wohl kaum eine Rolle. Ich bin der einzige Mensch, der Kenntnis hat von einem Anschlag auf das Leben des Präsidenten. Und auch andere Leben sind gefährdet.« Er umklammerte den Bettpfosten. »Ich muß mit der Information zu Seddon. Und zu Winder. Er kann die Verschwörer still und heimlich verhaften.«
»Alle Verschwörer?« fragte Madeline. »Einschließlich deiner Schwester?«
»Sie ist eine von ihnen. Weshalb sollte sie besondere Berücksichtigung verdient haben?«
»Du weißt, Orry, daß ich nicht mehr für sie übrig habe als du. Aber sie gehört zur Familie.«
»Familie! Lieber hätte ich Beast Butler als Verwandten. Madeline, meine Schwester wollte Billy Hazard ermorden lassen.«
»Das habe ich nicht vergessen, aber es ändert nichts an dem, was ich eben gesagt habe. Du hörst es nicht gern, aber es stimmt. Dazu kommt noch: Bis jetzt ist noch kein Verbrechen begangen worden.«
»Bestenfalls könnte ich – und ich will verdammt sein, wenn sie es verdient hat – ihren Namen verschweigen oder die Tatsache, daß ich sie gesehen habe.«
»Du müßtest für James das gleiche tun.«
»Ich schulde ihm nichts.«
»Er ist Ashtons Ehemann.«
Ein langes Schweigen, dann ein angewidertes Seufzen. »In Ordnung. Aber auf weitere Kompromisse lasse ich mich nicht ein. Ich werde Powell und niemanden sonst identifizieren. Wenn er Huntoon oder meine Schwester mit hineinzieht, so ist das seine Sache.«
»Wir sind entdeckt – man wird uns verhaften –, was in Gottes Namen sollen wir tun, Lamar?«
Huntoons Gejammer machte Ashton krank. Draußen vor dem Geräteschuppen schoß Powells Hand vor, packte Huntoon am Kragen. »Ganz bestimmt werden wir nicht wie die Kinder heulen.« Er stieß Huntoon zurück, als Wilbur, der Wachposten, über das Feld zurückgetrabt kam.
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