Auf halbem Weg zur Hauptstadt gönnte Charles, einen Passierschein in der Tasche, Sport eine kurze Rast an einem Flüßchen. Während der Graue trank, las er noch einmal Orrys Brief. Was ging es ihn an? Nicht mehr als seine Beziehung zu Gus. Der Krieg änderte vieles.
Er saß auf einem Felsblock neben dem murmelnden Flüßchen und las den Brief ein drittes Mal. Alte Erinnerungen, Emotionen begannen sein unbeugsames Pflichtgefühl aufzuweichen. Hatten die Mains und die Hazards – nun ja, die meisten von ihnen – nicht geschworen, daß die Bande der Freundschaft und der Zuneigung zwischen ihnen die Hammerschläge des Krieges überleben würden? Dies war nicht einfach bloß ein weiterer Yank, von dem Orry schrieb. Das war sein bester Freund, der Ehemann seiner eigenen Cousine Brett.
Das war das eine Band; das andere, an der Akademie geschmiedet, konnte gleichfalls nicht mit leichter Hand zerbrochen werden. Viele Offiziere, die ihre Truppen gegen alte Klassenkameraden führen mußten, hatten diese Wahrheit einsehen müssen.
Er steckte den Brief in die Tasche und schämte sich seines ersten Impulses, ihn einfach zu ignorieren. Aus vielen Gründen war er sich längst nicht mehr sonderlich sympathisch. Er rauchte eine weitere Zigarre und galoppierte weiter auf Richmond zu.
98
Hinterher erkannte Judith, daß sie auf die Katastrophe hätte vorbereitet sein müssen. Die Warnsignale waren unübersehbar.
Cooper schlief selten mehr als zwei Stunden pro Nacht. Oft kam er überhaupt nicht nach Hause, breitete sich nur eine Decke auf dem Bürofußboden aus. Mit Lucius ging es ebenfalls bergab. Schließlich faßte sich der erschöpfte junge Mann ein Herz und wandte sich insgeheim an Judith – konnte sie nicht etwas tun, irgend etwas, um das Wahnsinnige Tempo ihres Mannes abzuschwächen? Lucius deutete an, daß es sich bei einigen der Aufgaben, die Cooper ihm aufbürdete, um reine Beschäftigungstherapie handelte. Judith stellte das nicht in Frage, da ihr längst klar war, daß der übermüdete Verstand ihres Mannes Bewegung mit Ziel verwechselte.
Sie versprach Lucius, für eine Besserung der Situation zu sorgen, redete auch mit Cooper sehr vorsichtig und taktvoll darüber, provozierte damit aber lediglich einen Ausbruch, der ihn zwei ganze Tage von der Tradd Street fernhielt.
Da er ohne Sinn und Logik explodierte, konnte sie nichts weiter tun, als das Haus während seiner Anwesenheit möglichst ruhig zu halten. Marie-Louise durfte weder singen noch spielen, und sie selbst lud weder jemanden ein, noch nahm sie eine der wenigen Einladungen an, die sie erhielten.
So bewahrte sie eine unbehagliche Ruhe bis Mitte April, als verkündet wurde, daß General Beauregard das Kommando über das Department von North Carolina und Southern Virginia übernehmen würde. In Wirklichkeit wurde ihm damit die Verantwortung für die Verteidigungslinien von Richmond übertragen. Schnell wurde ein Abschiedsempfang im Mills House arrangiert. Cooper teilte ihr mit, daß sie hingehen würden. Am Tage des Empfangs versuchte Judith, es ihm auszureden – in der letzten Nacht hatte er nicht einmal eine Stunde geruht –, aber er griff nach seinem hohen, grauen Hut und den dazu passenden Handschuhen, und sie wußte, daß sie geschlagen war.
Sie erreichten die Broad-Street-Kreuzung und pausierten neben zwei Soldaten nahe den Stufen von St. Michael. Ungefähr einen halben Block entfernt tauchte eine Gruppe von achtzehn oder zwanzig Gefangenen auf. Die Yanks waren höchstwahrscheinlich draußen auf Morris Island gefangen worden. Drei Jungs in Grau, keiner von ihnen älter als achtzehn Jahre, bewachten die älteren Männer, die lachten und sich unterhielten, als würden sie ihre Gefangenschaft genießen.
Das Gaslicht blitzte auf den Bajonetten der jungen Wachen und ließ Coopers Augen sprühen. Sein Kopf dröhnte vom lauten Läuten der Glocken im Kirchturm über ihnen. Er beobachtete die Yanks, die auf die Straßenecke zugeschlurft kamen, wo er mit seiner Frau stand. Ein Sergeant mit blauer Jacke und dickem Bauch bemerkte Judith, lächelte und sagte etwas zu seinem Nebenmann.
Cooper schüttelte Judiths Hand von seinem Arm und rannte auf die Straße. Sie rief seinen Namen, aber er zerrte bereits den Sergeant aus der Reihe. Der jugendliche Wachposten vorn und die beiden anderen hinten schauten verblüfft drein. Cooper schüttelte den erstaunten Gefangenen.
»Ich habe gesehen, wie du meine Frau angestarrt hast. Behalt deine Blicke und deine dreckigen Bemerkungen für dich.«
Stimmen redeten durcheinander. Judith: »Ich bin sicher, der Mann wollte nicht – «
Der Wachhabende: »Sir, Sie dürfen sich hier nicht einmischen – «
Der Ire neben dem Sergeant: »Hören Sie, er sagte nicht ein einziges Wort – «
»Ich weiß es besser.« Coopers Stimme klang schrill. Er stieß mit seinem Stock nach dem Sergeant. »Ich hab’s gesehen.«
»Mister, Sie sind ja verrückt.« Der Sergeant wich zurück und stieß gegen die Männer hinter sich. »Helft mir doch, mir diesen verrückten Reb vom – «
»Ich hab’ deinen Gesichtsausdruck gesehen. Du hast was Dreckiges über sie gesagt.«
»Bitte, Sir, hören Sie auf«, bat der Wachposten.
»Ich weiß, daß du’s getan hast, und bei Gott, du wirst dich entschuldigen.«
Dem Sergeant reichte es. »Du kriegst nichts weiter als meine Faust, du verfluchter Verräter, du – «
Der niedersausende Stock schimmerte im Gaslicht. Judith schrie auf, als Cooper den Sergeant am Kopf traf, dann an der Schläfe. Der Sergeant versuchte sich mit erhobenen Armen vor den Schlägen zu schützen. »Haltet ihn mir vom Leib!« Cooper zerrte eine Hand des Yanks runter und traf ihn noch zweimal. Der Sergeant sank auf ein Knie, schüttelte benommen den Kopf.
Der Ire versuchte einzugreifen. Cooper rammte dem Mann das Stockende in die Kehle, schlug erneut auf den Sergeant ein. Der Stock zerbrach. »Oh mein Gott, Cooper, hör auf.« Judith zerrte an ihm, sah Speichel auf seinen Lippen. Er schüttelte sie ab.
Er drehte das Stockstück, das er noch in der Hand hielt, um. Mit dem Silberknauf hämmerte er auf den Kopf des Sergeants ein. Blut färbte das Haar des Gefangenen. Judith versuchte noch einmal, Coopers Arm festzuhalten. Er rammte ihn nach hinten, schnaubte wie ein Tier. Sein Ellbogen traf schmerzhaft ihre Brust. Er stieß Obszönitäten aus, die sie in all den Jahren nie von ihm gehört hatte.
»Du hast meinen Sohn getötet«, kreischte Cooper und landete einen weiteren Schlag. Endlich griffen kräftige Hände nach ihm, konnten ihn zurückreißen, ihm den Stock entwinden. Der geschockte Sergeant begann zu weinen. Die Gefangenen und der Wachhabende umringten Cooper, zerrten ihn zurück. Er trat, biß, warf sich von einer Seite zur anderen.
»Laßt mich los – er hat meinen Jungen getötet – mein Sohn ist tot – er hat ihn getötet!«
Die Masse der Männer rang Cooper auf den Gehsteig nieder, als die acht Kirchturmglocken die volle Stunde zu schlagen begannen. Der Klang hallte in Coopers Kopf nach. Einer der Yanks trat nach ihm.
»Bitte, laßt mich durch. Er ist nicht bei sich – «
Niemand beachtete Judith. Sie sah, wie ein anderer Gefangener auf Coopers ausgestreckte Hand trat. Verzweifelt schlug sie auf blaue Uniformen ein.
»Ich bin seine Frau. Laßt mich durch!«
Endlich öffnete sich eine Gasse, und sie warf sich über ihn, wiederholte seinen Namen in der Hoffnung, ihn zu beruhigen. Er rollte den Kopf hin und her, Schaum in den Mundwinkeln.
»Stoppt die Glocken – sie sind zu laut – ich ertrag’s nicht.«
»Was für Glocken?«
»Im Kirchturm«, brüllte er. »Dort – dort.«
»Jene Glocken sind nicht mehr da, Cooper.« Sie faßte ihn an den Schultern und begann ihn zu schütteln. »Schon vor Monaten haben sie die Glocken von St. Michael abgeholt und nach Columbia gebracht, damit sie den Yankees nicht in die Hände fallen können.«
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