Pechschwarze Finsternis vor ihnen, pechschwarze Finsternis hinter ihnen. Regenbäche rannen von Charles’ Hut. Sein Umhang war bereits seit Stunden durchweicht.
In vieler Hinsicht war es die schlimmste Nacht, die er je während seiner Soldatenzeit verbracht hatte. Sie befanden sich auf dem Rückzug, hielten auf das Gebiet südlich vom Potomac zu, eine Kolonne konfiszierter Farmwagen. An jedem Wagen hing eine bleiche Laterne; die Prozession erstreckte sich über Meilen.
Hamptons Männer bildeten die ehrenvolle Nachhut. Für Charles war es mehr die Vorpostenlinie der Hölle. Ironischerweise war der Tag, dessen letzte Stunden jetzt gerade verstrichen, der 4. Juli.
Gestern hatte Hampton seine dritte Verwundung durch ein Schrapnellfragment erlitten, nach einem vergeblichen Versuch, Meade zu umgehen und von hinten anzugreifen. Manche gaben Stuart ganz offen die Schuld an dem Debakel von Gettysburg. Kritiker behaupteten weiterhin, er habe die Armee ihrer Augen und Ohren beraubt, weil er sich zu weit von Lee entfernt hatte.
Bei einem Besuch bei seiner alten Einheit, der Second South Carolina, hatte Charles erfahren, daß Calbraith Butler, als Invalider nach Brandy Station heimgeschickt, sein restliches Leben mit einem Korkfuß verbringen mußte. Der Gedanke daran wollte ihm heute nacht nicht aus dem Kopf gehen; hinzu kamen noch die Rufe und Schreie der Verwundeten, die wie Sardinen in die ungefederten Wagen gepackt worden waren; jedes Schwanken und jedes Rütteln vergrößerte ihre Schmerzen. Ihre Stimmen füllten die regnerische Finsternis.
»Laßt mich sterben. Laßt mich sterben.«
»Jesus Christus, schafft mich aus dem Wagen. Habt Mitleid mit mir. Tötet mich.«
»Bitte, warum kommt denn niemand? Hier, der Name meiner Frau, schreibt ihr.«
Das kam von dem Wagen, der Charles am nächsten war. Unter ihm rutschte Sport in dem Schlamm weg; er versuchte, nicht hinzuhören. Aber es ging weiter und weiter: das Rauschen des Regens; das Quietschen der Achsen; die Männer, die wie die Kinder weinten. Es brach ihm das Herz.
Jim Pickles kam an seine Seite geritten. »Wir halten. Schätze, irgendein Hindernis weiter vorn.«
»Kommt denn niemand? Ich schaff’s nicht. Ich muß Mary sagen – «
Vor Wut kochend schwang Charles sein rechtes Bein über den Sattel; am liebsten hätte er seinen Colt gezogen und dem Schreier das Gehirn aus dem Schädel geblasen. Er sprang ab, klatschte in tiefen Schlamm. Sports Zügel drückte er Pickles in die Hand. »Halt ihn.«
Über das Hinterrad des Ambulanzwagens kletterte er unter die Leinwand, hinein in den Gestank. Er dachte an Weihnachten 1861. Damals hatte es geschneit. Jetzt regnete es. Aber die gleiche Arbeit mußte getan werden.
Seine Seele war wundgescheuert. Er hatte den ganzen Wahnsinn satt, die Idiotie, Männer der anderen Seite töten zu müssen, um ein Paar Männer auf seiner Seite zu retten. Warum hatten sie das damals auf der Akademie mit keinem einzigen verfluchten Wort erwähnt?
Hände zupften an seinen Hosen, die scheuen, sanften Berührungen verängstigter Kinder. Der Regen trommelte auf das Leinwanddach. Er hob seine Stimme, um gehört zu werden, aber sein Ton war sanft.
»Wo ist der Mann, der seiner Frau schreiben möchte? Er soll sich Melden, ich helfe ihm.«
Vom Wohnzimmerfenster aus schaute Orry die Marshall Street hinunter, zu den vom Sonnenuntergang geröteten Dächern und Reihenhäusern. Seit Tagen war die Stadt in ungewöhnliches Schweigen gehüllt, aus Gründen, die der normalen Bevölkerung noch nicht aufgegangen waren. Aber er verstand es.
»Einige der Narren im Ministerium behaupten, Lee sei erfolgreich gewesen – er habe seine Absicht verwirklicht: die Armee im Feindesland neu zu verproviantieren.« Grau gekleidet, ernst und schweigsam saß Madeline da und wartete darauf, daß er weitersprach. »Die Wahrheit ist, daß sich Lee auf dem Rückzug befindet. Seine Verluste mögen bis an die dreißig Prozent gehen.«
»Guter Gott«, flüsterte sie. »Wann wird das bekannt werden?«
»Du meinst, wann die Zeitungen davon erfahren? Ein Tag, zwei Tage, schätze ich.« Er rieb sich die Schläfen, die ihn in der Gluthitze plötzlich schmerzten. »Es heißt, Pickett habe die Unionsstellungen am Cemetery Hill im hellen Tageslicht angegriffen. Ohne jede Deckung. Wie Weizen, in den die Sense fährt, so fielen seine Männer. Armer George – warum haben wir diese verfluchte Sache nur angefangen?«
Sie ging zu ihm, schlang die Arme um ihn und preßte ihre Wange gegen seine Schulter. Sie wünschte, sie könnte ihm eine Antwort darauf geben. So hielten sie sich fest, während das rötliche Licht schwächer und schwächer wurde.
In einer armseligen Kneipe unten am Flußbecken bestellte Elkanah Bent ein Bier, das warm und abgestanden schmeckte. Angewidert stellte er es ab, gerade als ein weißhaariger Mann hereingerannt kam, dem die Tränen über die Backen liefen.
»Pemberton hat aufgegeben. Am 4. Juli. Der Enquirer hat eben eine Extraausgabe rausgebracht. Grant hat ihn ausgehungert. Die Yanks haben Vicksburg und vielleicht den ganzen verdammten Fluß. Wir können nicht mal unser eigenes gottverfluchtes Territorium halten.«
Bent stimmte in die mitfühlenden Flüche der anderen ein. In der Ferne begann eine Kirchenglocke zu läuten. War er genau in dem Moment nach Richmond gekommen, als alles auseinanderzufallen begann? Ein Grund mehr, diesen Powell so schnell wie möglich zu finden.
Mr. Jasper Dills litt unter Kopfschmerzen, die noch schlimmer waren als die von Orry Main. Die Kopfschmerzen begannen am Unabhängigkeitstag, einem Samstag, als die Nachricht von einem großartigen Sieg bei Gettysburg die Stadt erreichte. Washington hatte seit Tagen auf gute Nachrichten gewartet. Dadurch bekam die Feierlichkeit etwas mehr Saft und Kraft.
Die erfreulichen Neuigkeiten konnten die zermürbenden Auswirkungen des allgemeinen Lärms auf Anwalt Dills nicht ausgleichen, konnten ihn nicht mit dem vertrauten Muster versöhnen, das sich in den Tagen nach der Feier abzeichnete. Wie alle Generäle vor ihm schien Meade zu zaudern. Er verfolgte Lee nicht aggressiv und vertat so die Chance, den Kern der Konföderiertenarmee zu vernichten. Die Festbeleuchtung erlosch in den Fenstern der Herrschaftshäuser und der öffentlichen Gebäude. Die Freudenfeuer sprühten Funken, brannten nieder; beißender Rauch stieg auf.
Mit immer noch schmerzendem Kopf grübelte Dills über zwei weiteren unangenehme Informationen. Sein Butler hatte ihm mitgeteilt, daß Bent an der Haustür wie ein Verrückter getobt habe. Und ein scharfer Brief von Stanley Hazard setzte Dills davon in Kenntnis, daß der von ihm empfohlene Mann beinahe eine Katastrophe ausgelöst habe, indem er einen demokratischen Reporter zusammenschlug, obwohl niemand ihm ein solches Verbrechen befohlen hatte.
Stanton hatte verlangt, daß jemand zur Verantwortung gezogen wurde. ›Ezra Dayton‹ wurde entlassen, mit der Anweisung, Washington zu verlassen – und Mr. Dills möchte doch so nett sein und niemanden mehr der Sonderabteilung empfehlen, besten Dank.
Zwei Tage und zwei Nächte hatten von Dills Firma beschäftigte Boten die Stadt abgesucht. Es stimmte – Bent war verschwunden. Niemand wußte, wohin. Dills saß in seinem Büro; in seinem Kopf hämmert es, während er an das feste Gehalt dachte, das ausbleiben würde, wenn er die Spur von Starkwethers Sohn verlor. Was sollte er tun? Was konnte er tun?
»Der Tag war eine einzige Katastrophe«, beklagte sich Stanley beim Abendessen. Es war der Dienstag nach dem Unabhängigkeitstag. »Der Minister ist wütend, weil Meade nicht losschlägt, und mir gibt er die Schuld an dem Schlamassel mit Randolph.«
»Ich dachte, du hättest es geschafft, das zu vertuschen.«
»Bis zu einem gewissen Grad. Randolph wird nichts publizieren. Das heißt, seine Zeitung in Cincinnati wird nichts bringen. Aber Randolph läuft wieder frei auf den Straßen rum, und seine Verletzungen sind die beste Reklame für das, was man ihm angetan hat. Und heute nachmittag bekamen wir weitere schlechte Nachrichten. Laurette?«
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