«Ich hatte nur einen vagen Verdacht, eine Ahnung. Es war mir nicht möglich, eine klare Diagnose zu stellen. Vielleicht hätten auch Sie mich ausgelacht, wenn ich vor Beginn der Operation verlangt hätte, daß man sie absetzt!«
Lisa Mainetti winkte dem Famulus Baumann.»Lassen Sie den Toten wegschaffen, Baumann. Und dann den nächsten Patienten. Dr. Urban hat uns ein großes Programm zusammengestellt.«
Professor Rusch rannte aus dem OP. Auf dem Flur prallte er auf Dr. Urban, der dort auf ihn gewartet hatte.
«Herr Professor.«, begann Urban. Rusch hob abwehrend beide Hände.
«Sprechen Sie mich nicht an, Sie… Sie.«, schrie er.
«Werden Sie Meldung machen?«
«Erwarten Sie etwas anderes von mir?«
«Ist Ihnen noch nie ein Patient gestorben?«
«Nicht auf diese Art!«
«Ich. ich bitte Sie, Herr Professor, von einer Meldung abzusehen«, sagte Dr. Urban mit leiser, bebender Stimme. Er war völlig verstört.
«Sie Stümper!«schrie Rusch. Er kannte sich selbst nicht mehr. Er sah mit innerem Schauder, daß auch in ihm alle Hemmungen zerbrechen konnten.»Sie Schwächling! Sie Emporkömmling! Ich will Sie heute nicht mehr in meinem Lazarett sehen. Bis nach Neujahr nicht!«
Dr. Urban wandte sich ab und rannte den Flur hinunter bis zu seinem Zimmer. Es war, als flüchte er vor dem Toten, der eben von zwei Sanitätern aus dem OP gerollt wurde. Professor Rusch lehnte sich erschöpft an die Wand.
Quietschend rollte die fahrbare Trage an ihm vorbei, und die beiden Sanitäter, die sie schoben, machten das Kreuz hohl, strafften sich und hoben die Arme zum Deutschen Gruß.
Der Übergang von 1944 zu 1945 verlief still auf Schloß Bernegg. Menschen, die keine Gesichter mehr haben, werden nachdenklich, nicht fröhlich, wenn ein neues Jahr beginnt. Man hält Rückschau und denkt an die Zukunft, wünscht sich die Erfüllung heimlicher Gedanken und großer Sehnsüchte und trinkt sehr versonnen das Glas Wein, das aus der Spende eines Würzburger Weinhändlers pro Kopf des Lazaretts zugeteilt wurde.
Dr. Urban war wirklich weggefahren, wohin, wußte niemand. Er hatte sich bei Professor Rusch nicht abgemeldet. Nach seiner Ansicht war der Hinauswurf Abmeldung genug.
Fritz Adam feierte mit Dora Graff unten in Bernegg in einem Hotel das neue Jahr. Er hatte am Silvestertag einen Brief an seine Frau geschrieben und ihr mitgeteilt, daß er einsehe, ihre Jugend nicht durch seinen Anblick zerstören zu können. Er gebe sie frei und bitte sie, die Scheidung mit seinem Einverständnis einzureichen. Damit es schneller gehe, nehme er alle Schuld auf sich. Er habe sich in eine Krankenschwester verliebt und gestehe einen Ehebruch ein.
Er zeigte den Brief Dr. Mainetti, noch bevor sie ihm von dem Anruf Irene Adams berichtet hatte.
«Hatte ich nicht recht?«fragte sie.»Das Leben geht immer weiter. Wenn Fritz Adam allein stehengeblieben wäre, würde das alle irdischen Gesetze umgeworfen haben.«
«Sie sind eine wunderbare Frau, Frau Doktor!«sagte Fritz Adam. Man sah, wie er unter seiner verschrumpelten Haut rot wurde.
«Keine Komplimente. Die machen Sie Ihrer Dora Graff, Adam. Nur halte ich es für Blödsinn, Ihrer Frau von Ehebruch zu schreiben.«»Damit es schneller geht, nur darum.«
«Mann Gottes — wollen Sie zu allem auch noch die Alleinschuld auf sich nehmen?«
«Ja. Wenn es sein muß.«
«Es muß nicht. Ich werde auch das für Sie regeln.«
«Sie? Wie können Sie denn das?«
«Mein Lieber!«Lisa Mainetti gab Adam den Brief zurück.»Hat es sich noch nicht herumgesprochen, daß ich zu allem anderen auch noch zaubern kann?«
Die Amüsiergruppe der Stube B/14 zog wieder aus. Der Berliner, der Wastl Feininger und drei andere. Sie hatten bereits bei ihrer Aus-quartierung in Sachen >Heldenklau< in Würzburg Hotelzimmer bestellt und hatten bis zum Silvestertag in einem heroischen Kampf mit der Schreibstube um einen neuen Urlaubsschein gestanden.
«Nichts!«hatte der Schreibstubenfeldwebel gebellt.»Nichts leg' ich dem Chef vor! Nachher sind wir für die Alimente verantwortlich!«
«An Schmarrn bist!«schrie der Wastl.»Mei Vaterschaft trag' i al-loa!«
Es war wieder Lisa Mainetti, die die Urlaubsscheine unterschrieb. Sie durfte es nicht, aber für eine Kontrolle genügte es, wenn neben einem Stempel eine Unterschrift stand.
Dann zog die große Stille über Schloß Bernegg. In den Zimmern saß man um die Radios und hörte die Neujahrsbotschaft von Goebbels und ein schönes Konzert, man trank dünnes Bier und hob sich das Glas Wein für den Zwölfuhrtrunk auf. Man las oder schrieb, spielte Schach oder Skat, und es war eigentlich genauso wie jeden Abend, nur ein wenig stiller, wehmütiger, nachdenklicher.
Ein neues Jahr. Das letzte des Kriegs?
Und was kam dann?
Was wird aus uns, den Menschen ohne Gesicht?
Vielleicht gab es im neuen Jahr gar kein Deutschland mehr. Aber irgendwie mußte es doch weitergehen. Man konnte doch 60 Millionen nicht einfach auslöschen.
Professor Rusch und Lisa Mainetti saßen zusammen im Chefzimmer und tranken still eine Flasche Wein. Sie hatten das Licht gelöscht und saßen sich im Dunkeln gegenüber, Schatten in den Polstersesseln, die Rusch aus seiner Wohnung hatte kommen lassen.
«Wann heiraten wir, Lisa?«fragte er unvermittelt in die Stille hinein.
«Welche Frage! Erst schreist du mich vor allen Ärzten und den Sanis an.«
«Ist meine Frage nicht eine einzige große Entschuldigung?«
«Laß erst Frieden sein, Walter. Wir wissen alle nicht, was uns noch bevorsteht. Vielleicht wird jeder glücklich sein, der dann allein steht, weil er nur sein Leid tragen muß und nicht auch noch das eines anderen.«
«Du bist die merkwürdigste Frau, die ich je gekannt habe«, sagte Rusch. Er stand auf, beugte sich über Lisa und küßte sie. Sie legte den Arm um seinen Nacken und drückte seinen Kopf an sich.
So blieben sie beieinander, bis die Tischuhr zwölf schlug. Sie hoben die Gläser, stießen an und tranken das Glas leer.
«Gott steh' uns bei!«sagte Lisa leise.
Und plötzlich weinte sie.
Überall klangen die Gläser zusammen, in den Zimmern, in der Wachstube, bei den Bereitschaftsärzten. Unten in Bernegg in einem Hotelzimmer, aus dessen Fenster Dora Graff und Fritz Adam in die Silvesternacht blickten.
In Köln, in dem muffigen Keller des Hauses Horst-Wessel-Straße
4, wo Frau Hedwig Schwabe drei Pfannen voll Reibekuchen buk und Ursula den aus einer Sonderzuteilung von schlechtem Rum gemachten Grog mit einem säuerlichen, roten Heißgetränk verlängerte.
In Würzburg, in einem geschlossenen Bordell, wo Wastl Feininger um 12 Uhr einen Watschentanz vorführte. Und in der Villa Wolfach auf dem Hügel von Bernegg, vor einem flammenden Kamin, ohne Walter Hertz, den einzuladen der Fabrikant Hubert Wolfach seiner Tochter verboten hatte.
Von Bernegg herauf läutete die letzte Glocke, die der totale Krieg übriggelassen hatte. Die kleinen Dorfkirchen im Umkreis fielen mit dünnen, hellen Stimmen ein. Das Glöckchen der Schloßkapelle von Schloß Bernegg bimmelte dazwischen, im Chorraum der Kapelle zog ein Mann an dem alten, morschen Seil, auf und ab, einatmend, ausatmend im Rhythmus des Ziehens.
Er hatte nur noch ein halbes Gesicht. Die rechte Seite war weggerissen worden. Breite Hautlappen bedeckten die schreckliche Wunde.
Der Glöckner von Schloß Bernegg wünschte ein gutes neues Jahr.
Fünf Tage nach Jahresanfang traf Frau Irma Fischer in Bernegg ein. Lisa Mainetti hatte ihr ein Telegramm geschickt.»Ihr Mann schwer verletzt. Bitte kommen. «Sie war sofort in den nächsten Zug nach Würzburg gestiegen, hatte hinter München einen schweren Luftangriff auf die Bahnlinie überstanden und war nun zwei Tage unterwegs, von Zug zu Zug umsteigend, Umwege fahrend, weil die Gleise zerstört waren, auf freier Strecke wartend, weil neue Alarme das Weiterfahren unmöglich machten. In Würzburg endlich hatte sie Glück. Ein Wehrmachtswagen nahm sie mit nach Bernegg, nachdem sie vier Stunden in eisiger Kälte an der Straße gestanden und den wenigen Fahrzeugen gewinkt hatte. Die meisten fuhren in eine andere Richtung.
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