»Von der Kommandantur. Ich wurde - als Putzfrau angestellt. Ein Feldwebel wollte mich auf sein Zimmer nehmen. Er ging, Wein und Schnaps zu holen. Er blieb lange weg - und ich habe die Papiere abgeschrieben und hier verborgen.« Sie zeigte auf ihre Brust und lächelte. »Ich ging, bevor er kam. Sind die Papiere wertvoll?«
»Das weiß ich noch nicht. Die neue Truppe heißt 999. Aber warum tragen sie die Nummer nicht wie die anderen auf den Schulterstücken? Sie haben gar keine Schulterstücke. Merkwürdig ...« Er erhob sich und trat zu Tanja. »Du mußt es erfahren, Mädchen. Aber ohne Feldwebel!«
»Bleibst du heute nacht hier, Serjoscha?« fragte sie leise.
»Es geht nicht. Sie warten im Wald auf mich.«
Noch eine Stunde, und er würde durch die deutschen Nachschubstellen gehen. Ein armer, zerlumpter Bauer, der durch den Schnee zu seiner Hütte stapft, die irgendwo in der weiten Unendlichkeit lag. Der deutsche Posten am Dnjepr, an der Holzbrücke, über die er gehen mußte, würde ihn anhalten: »Halt! Wohin, du krummer Hund?« Und er würde demütig sagen: »Damoi, Brüderchen, damoi ...« Nach Hause. Der Posten würde nicken und ihn über die Brücke lassen - wie immer. Er war irgendein einfältiger Bauer im alten Schafspelz und mit einer hohen Fellmütze. Hinter Orscha stand ein Schlitten. Fedja wartete dort mit zwei Pferden. Sie würden über die Schneefelder fliegen wie Schemen, vorbei an Babinitschi, in einem Bogen um Gorki. Das Land ist weit ... Die Deutschen konnten nicht überall sein. Und dann kam der Wald, die dunkle Wand, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte. »Heimat der Wölfe« nannten ihn die Bauern von Gorki und Bolschie Scharipy. Jetzt wohnten darin Menschen - die Wölfe Stalins, die zweite Partisanenkompanie unter Oberleutnant Sergej Petro-witsch Denkow. Tanja bewegte sich. Er erwachte aus seinen
Gedanken.
»Der Tee«, sagte sie leise.
Sie goß eine Kanne voll. Der Samowar stand in der Ecke, es dauerte zu lange, ihn in Betrieb zu setzten. Tanja saß neben ihm und sah ihm zu, wie er aus einer Untertasse den heißen, grünlichen Tee schlürfte.
»Sie wollen mich als Dolmetscherin haben, weil ich ein bißchen Deutsch kann«, sagte sie. »Soll ich, Serjoscha?«
Oberleutnant Sergej nickte mehrmals. »Natürlich! Um so mehr wirst du erfahren!«
»Wirst du dann öfter kommen?«
»Vielleicht ...« Er sah in ihre großen schwarzen Augen. Ihr schmales Gesicht schwamm in der Dämmerung des Raumes. »Du bist schön«, sagte er, »du wirst dich vor ihnen wehren müssen .«
»Ich hasse sie, Serjoscha!«
»Aber sie hassen dich nicht .«
»Sie werden es nie erreichen, nie!«
Sie blickte gegen den Ofen. Sergej verfolgte ihren Blick. Hinter dem Kamin, in einer Wandvertiefung, lag eine geladene und entsicherte russische Armeepistole.
»In einem halben Jahr haben wir Witebsk und Orscha zurückerobert«, sagte Sergej. Seine Stimme war heiser vor Erregung. »Dann werden wir heiraten, Tanjuschka. Nur noch ein halbes Jahr ... Wir werden es durchhalten!«
Sie nickte tapfer, wischte sich über die großen Augen und lächelte ihn an.
»Du gehst jetzt?«
»Ja.« Er küßte sie. Ihre Lippen waren kalt.
»Gott schütze dich!« flüsterte sie.
Er verließ schnell das Haus und rannte durch die Dunkelheit über den Hof. Gott, dachte er, wie kommt sie auf Gott? Er nahm sich vor, den Satz zu vergessen. Er war ein Bolschewik, und er kannte keinen Gott und wollte keinen kennen. Sein Gott war die Partei, war Rußland und der abgrundtiefe Haß gegen die deutschen Eindringlinge. Ihnen lebte er, sie waren allgegenwärtig und übermächtig, weit mächtiger als dieser merkwürdige Gott alter Leute ...
Hauptmann Barth meldete sich bei dem Stadtkommandanten von Orscha. Der alte Major, Reservist, der sich in der russischen Einsamkeit völlig fehl am Platze fühlte, sah auf die Papiere, die ihm Barth vorgelegt hatte. Mit wässerigen Augen schaute er über seine Brille.
»999? Welches Regiment, welche Division?«
»Bei dem Bataillon 999 handelt es sich um ein selbständiges Strafbataillon, Herr Major.«
»Strafbataillon?«
»Ja, Herr Major.«
»Hm.« Der Alte musterte Hauptmann Barth mißtrauisch von oben bis unten. War sicher Kavallerist, dachte Barth. So mustert man einen Gaul, der lahmt. Kann ich ihm nicht übelnehmen. Für den bin ich vorerst ein besserer KZ-Aufseher. »Sie sind der Kommandeur?«
»Ja, Herr Major. Meine Truppe ist zur Frontbewährung nach Orscha gekommen.«
»Zur Frontbewährung. Natürlich.« Der Major sah Hauptmann Barth wieder kritisch an. »Sie hören noch von mir. Oder haben Sie Sonderbefehle?«
»Jawohl. Meine Truppe soll im Rahmen des rückwärtigen Frontaufbaues eingesetzt werden. Vor allem in Spezialaufgaben, die außerhalb der Aufgaben anderer Truppenteile liegen«, sagte Barth mit ironischer Stimme.
»Ich verstehe.« Der alte Major bemühte sich nicht, sein fast körperliches Unbehagen über dieses Gespräch zu verbergen. Er sah auf Barths Ordensbänder und schob die Unterlippe vor. »Sie waren schon an der Front?«
»Von Anfang an. Polen, Frankreich und der Vormarsch in Rußland bis 1943. Ich war bei der Panzerspitze, die die Türme von Moskau sehen konnte.«
»Und jetzt 999?«
»Ja, Herr Major. Freiwillig.«
»Freiwillig?« Der Standortkommandant von Orscha legte die Papiere umständlich in eine Mappe, als wollte er seine Überraschung und Ratlosigkeit verbergen. »Ich würde mich freuen, Sie an einem der nächsten Abende zu sprechen, Herr Hauptmann. Bei einem Glas Grog. Ich schicke Ihnen eine Ordonnanz.« »Vielen Dank, Herr Major.« Barth lächelte leicht. Der Köder saß, der Alte hatte angebissen. Oder - kavalleristisch ausgedrückt: Der Gaul keilte, aber scharf auf Kandare geritten, trabte er ganz folgsam. Man wußte nie, wofür das gut war ... Während Hauptmann Barth sein Bataillon anmeldete, saß Deutschmann in seiner Unterkunft und schrieb an Julia. Der kleine Raum in einem halbzerschossenen Bauernhaus war von Kerzen notdürftig erleuchtet. Die zwei schwachen, flackernden Lichter drohten jedesmal auszugehen, wenn jemand durch die Türe kam und der Luftzug von draußen eisig durch die Stube strich. Große verschwommene und dann wiederum scharf um-rissene Schatten tanzten an den rauchgeschwärzten Wänden und huschten über das Papier, auf dem sich langsam Wort an Wort und Zeile an Zeile reihten.
Deutschmann schrieb:
Mein liebes, liebes Julchen,
Du wirst schon lange keinen Brief von mir bekommen haben, Rehauge. Oder ist es gar nicht so lange her? Mir jedenfalls scheint von damals, als ich Dir noch von unserem alten Standort geschrieben habe, bis heute eine Ewigkeit vergangen zu sein. Heute sind wir in Rußland, damals waren wir in Europa.
Ich weiß, auch der Ort, wo wir uns befinden, liegt auf der Landkarte in Europa. Aber es ist eine so völlig andere Welt, in die wir gekommen sind, es ist alles so neu und furchtbar fremd, daß ich mich manchmal fragen muß, ob ich wirklich noch bin, ob ich das alles wirklich erlebe und nicht nur erträume. Ein »Früher« gibt es fast nicht mehr; die Bilder, die aus meinem Gedächtnis aufsteigen, wenn ich an »früher« denke, sind blaß und konturlos geworden - allein Du bist immer noch so stark in mir wie früher. Mehr noch: stärker, lebendiger als je, manchmal so stark und lebendig, daß ich vermeine, Deine Stimme zu hören und Deinen Hauch an meiner Wange zu spüren ...
Deutschmann setzte ab und sah unwillig zur Tür, die krachend aufging. Unteroffizier Peter Hefe oder der »Gärende«, wie er von den Soldaten genannt wurde, stürmte in den kleinen Raum. »Wiedeck, Schwanecke, Graf Hugo, los fertigmachen! Wir müssen auf Störtrupp gehen.« »Einundzwanzig!« sagte Schwanecke. Er spielte Karten mit Wiedeck und dem Grafen Hugo von Siemsburg-Wellhausen, den alle nur Hugo nannten. Er beachtete Hefe nicht. Dann sah er langsam auf und fragte: »Was is’n los? Was müssen wir machen?«
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