»Was für eine Spritze?« fragte Deutschmann.
»Das hat doch damit nichts zu tun - eine Antitetanusspritze hat er bekommen«, sagte Kronenberg. »Er hat sich mit einem rostigen Stacheldraht ...«
»Bringen Sie Adrenalin und eine Spritze!« befahl Deutschmann knapp. »Machen Sie schnell, sonst kann wirklich etwas passieren!«
Jetzt war er wieder dort, wohin er gehörte: in einem nach Medikamenten, Desinfektionsmitteln und kranken Menschen riechenden Raum, neben einem Sofa, auf dem ein Mann mit dem Tode rang. Die Schwäche, Unsicherheit und Unbeholfen-heit waren wie mit einem Schlage von ihm abgefallen. Es war wieder wie damals, in den Jahren nach seinem Doktordiplom, als er in einer Berliner Klinik arbeitete, von einem Kranken zum anderen ging, als er mit dem Tode um seine Patienten rang - dort, wo er Julia kennen- und liebengelernt hatte.
Kronenberg sah ihn groß und erstaunt an und brachte das Verlangte: eine Adrenalinampulle und aus dem silbern glänzenden Sterilisator eine Spritze und Nadeln. Deutschmann streifte dem Liegenden den Ärmel hoch und fühlte nach seinem Puls; er war kaum zu spüren, flatterhaft, manchmal beängstigend lange aussetzend.
»Benzin!« sagte Deutschmann.
Die beiden Soldaten standen dabei und sahen ihm zu, wie alle Menschen in allen Zeit einem Arzt bei der Arbeit zugesehen haben: neugierig, scheu, bewundernd.
Deutschmann schnürte den Oberarm des Liegenden ab, so daß die Adern in der Armbeuge dick und blau hervortraten. Dann rieb er mit einem benzingetränkten Wattebausch die Haut ab und stach die Nadel in die Vene.
»Schock«, sagte er.
»Wieso Schock, was ...«, fing Kronenberg an, aber Deutschmann unterbrach ihn leise und ruhig, während er die Flüssigkeit langsam und ruhig in die Vene drückte:
»Nicht jeder verträgt das Antitetanusserum.«
»Kriegst du ihn durch?« fragte ein Soldat.
»Ich denke schon«, sagte Deutschmann.
Er hat ihn durchgekriegt. Nach langen bangen Minuten, nachdem er alles getan hatte, was zu tun war, und man nur noch warten konnte, wich aus dem Gesicht des Kranken langsam die violette Färbung, er begann wieder zu atmen, sein Puls wurde regelmäßig, obwohl er vorläufig ziemlich schwach blieb.
»Es ist gut«, sagte Deutschmann endlich. »Es kann nichts mehr passieren.«
»Wieso kannst du das so gut?« fragte ihn Kronenberg erstaunt und dankbar zugleich. Er hatte auch allen Grund, dankbar zu sein: Langsam dämmerte es ihm, daß der Soldat durch seine Schuld gestorben wäre. Er hatte ihm die doppelte Menge Serum gegeben, weil »doppelt ja besser hält«.
»Ich muß es wohl«, antwortete Deutschmann lächelnd. »Schließlich bin ich ein Arzt.«
»Arzt ...?«: Kronenberg pfiff durch die Zähne. Seinem breiten, schwerfälligen Gesicht war anzusehen, daß er irgend etwas überlegte. Aber er sagte nichts; er sagte nie etwas, bevor er es nicht gründlich und von allen Seiten abgewogen hatte.
Als Deutschmann gegen Abend wieder in seinem Bett lag, kam Kronenberg zu ihm und holte ihn in seine kleine Kammer neben dem Behandlungsraum.
»Hör mal zu«, begann er, nachdem sich Deutschmann auf dem einzigen Stuhl niedergelassen hatte. »Ich hab’ so ‘ne Idee. Aber zuerst trinken wir einen Schnaps. Magst du?«
Deutschmann nickte.
Kronenberg machte seinen Spind auf und holte aus der hintersten Ecke eine Flasche. Deutschmann machte große Augen: Französischer Kognak! Kronenberg grinste ihn an:
»Vom Alten, verstehst du? Vom Stabsarzt. Eine Seele von Mensch! Ich kann ihn um den Finger wickeln, wenn ich will.«
Sie tranken.
Schon nach einigen Schlucken erschien Deutschmann die Welt wieder ein klein wenig erträglicher, ja, beinahe angenehm. Er vergaß den Spieß, die Unteroffiziere, er vergaß seine Krankheit und Schwäche und seine Verzweiflung, die dunkle, hoffnungslose Zeit, durch die er gehen mußte; er und alle anderen, er und Julia, er und Kronenberg und Wiedeck und Bartlitz und Schwanecke - auch Schwanecke und alle, alle ... Bequem setzte er sich auf dem Stuhl zurecht und wartete gespannt, was ihm Kronenberg zu sagen hatte.
»Paß mal auf«, begann dieser, »ich weiß, es ist kein Spaß da draußen!« Mit dem Daumen machte er eine Bewegung gegen das verdunkelte Fenster. »Du verstehst mich?«
Deutschmann nickte.
»Ich hab’ einen Vorschlag. Ich brauche einen Hilfssani, verstehst du? Dann bist du die Brüder los, Krüll und so weiter, keiner kann dir was, und wir machen uns hier eine schöne Zeit.«
»Wie willst du denn das machen?« fragte Deutschmann zögernd. Diese Idee erschien ihm absurd, unwahrscheinlich.
Er, Dr. Ernst Deutschmann, Privatdozent - ein Hilfssani! Sozusagen der letzte Dreck im Sanitätskorps! Dabei wäre er nach einem Jahr mindestens Stabsarzt, wenn er nicht im Strafbataillon wäre. Andererseits - warum eigentlich nicht? Wenn man beim Militär ein Klavier tragen mußte, dann suchte der Spieß Musiker aus; wenn die Unteroffiziere ihre Buden geschrubbt haben wollten, dann beauftragten sie damit besonders gute Schwimmer, weil sie ja keine Angst vor Wasser hätten. Und wenn Kronenberg einen Hilfssani brauchte - warum sollte er dann nicht ihn, den Arzt Deutschmann, nehmen?
»Das überlaß du nur mir!« sagte Kronenberg mit einer großartigen Geste. »Ich habe dir doch gesagt - der Chef und ich -du verstehst?«
»Und - was hätte ich zu tun?«
»Ach so, na, jetzt einstweilen noch Pißpötte ‘raustragen, Thermometer in den Hintern stecken und so weiter. Du verstehst ja was davon. Und nachher in Rußland - weiß der Teufel! Was halt so kommt. Einverstanden?«
»Pißpötte?« sagte Deutschmann.
»Du bist dir wohl zu gut dazu, was? Du kannst ja wieder ‘raus! Du bist gesund - Krüll wartet schon auf dich!«
»Kann ich noch was zu trinken haben?« fragte Deutschmann. Ein kleiner Aufschub. Pißpötte! - dachte er schaudernd.
Thermometer in den Hintern, was halt so kommt ...
Aber er hatte sich schon entschieden.
»Na gut«, sagte er, nachdem er getrunken hatte. »Machen wir.«
Am nächsten Morgen half er bereits dem Sanitäter Kronenberg beim Fiebermessen und rückte anschließend mit einem Arm voll Nachttöpfen auf die Latrine des Reviers, um sie dort zu leeren und zu spülen. Und im Laufe des Vormittags und Nachmittags sah er mit einiger Besorgnis, daß Kronenberg recht gern sprach, aber weniger gern arbeitete. Im übrigen war er jedoch ganz angenehm, gutmütig, schrie nicht, brüllte nicht, man konnte gut mit ihm auskommen - es war immer noch besser, hier zu sein, als vom »Krüllschnitt« über den Appellplatz gejagt zu werden.
So wurde beiden gedient. Deutschmann empfand die Ruhe im Revier, die Gesellschaft der Kranken, den Sanitäter Kronenberg und die Nachttöpfe als eine Wohltat nach den Tagen unter Krüll, und Kronenberg hatte einen echten Arzt als Hilfs-sani, er, der kleine Handwerker aus Westfalen. Einen Mann, der alle Arbeiten machte, zu denen er keine Lust hatte, und der bei Bedarf auch noch mit seinem Wissen einspringen konnte. Ein Idealfall, seltenes Glück - und zugleich doppelte Rückendeckung.
Am Abend sprach Kronenberg mit Stabsarzt Dr. Bergen. Er rückte mit seinen Problemen in der schiefen Schlachtordnung vor und fühlte erst einmal nach der allgemeinen Lage.
»Ist die Herzsache vom Zimmer 3 schlimm, Herr Stabsarzt?«
»Warum?« Dr. Bergen blickte von seinen Notizen auf. Er hatte die pedantische Angewohnheit, über jeden Tag eine Art Rapport zu führen, den keiner las und der in dicken Aktenstößen im Rollschrank verstaubte. »Wieder ein Anfall? Geben Sie ihm Myocardon.«
»Jawohl.« Kronenberg sah auf die Papiere. Appendizitis
Zimmer 4, las er. Überstellung in Reservelazarett Posen I zwecks Ektomie. »Da ist noch was, Herr Stabsarzt.«
»Bitte?«
»Der Schütze Ernst Deutschmann ist recht anstellig. Wir brauchen noch einen Mann fürs Revier. Eine Art Hilfskraft. Durch die Arbeitskommandos ist das Revier so belegt, wie Herr Stabsarzt selbst wissen, daß ich allein ...« Er stockte und verbesserte sich sofort: »Das heißt, ich schaffe es schon allein. Aber das dauert manchmal zu lange bei dringenden Fällen. Und jetzt überhaupt, wenn wir nach Rußland kommen .« Daß Deutschmann Arzt war, verschwieg er wohlweislich.
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