Nein, ich bin keine zweite Madame Curie. Aber ich will den Platz, auf den ich gestellt worden bin, ausfüllen. Heute sehe ich, daß es nicht meine Aufgabe ist, mit Dir zu wetteifern, sondern Dir zu helfen. Und jetzt - jetzt ist meine Aufgabe vor allem, Dich nicht nur für mich allein zu erhalten, sondern auch für die anderen, für Deine Arbeit, für Deine Träume, für das, was Du getan hast und was Du noch tun würdest.
Ich sehe meinen Weg.
Ich weiß, es ist gefährlich, was ich tue, aber ich muß es tun. Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Wenn ich nur wüßte, wie Du lebst, wo Du bist!
Wenn ich an Dich denke, Ernsti, dann werde ich wieder zu einem kleinen verliebten Mädchen, das in den Sternenhimmel sieht und von dem Mann träumt, dem es gehören möchte. Ich gehöre Dir, ganz, Du lebst in mir, wir haben eine lange und doch so schrecklich kurze Zeit zusammen verbracht - und trotzdem möchte ich einen kleinen, winzig kleinen Stern für uns beide aussuchen; wenigstens ihn könnten wir beide sehen. Klein müßte er sein, fast unsichtbar, dann würde er nur uns gehören, dann gäbe es niemand sonst, der zu ihm hinaufschaut und in ihm den anderen sucht.
Es ist sehr spät abends. Schlaf gut, Ernsti, ich mache die Augen zu, denke ganz fest an Dich, und vielleicht, vielleicht werde ich Deinen Gutenachtkuß fühlen: an den Mund, an die Augen -und zuletzt an die Nasenspitze ...«
Julia legte die Füllfeder weg, lehnte sich zurück, schloß die Augen und lächelte.
Über ihre Wangen glitten stille, glitzernde Tränen.
Am Mittwoch, am Tage seiner Ankunft, hatte Schwanecke den Oberfeldwebel Krüll dazugebracht, daß er eine Weile nicht wußte, was er tun sollte. Und am Samstag gelang es ihm, den Spieß sprachlos werden zu lassen, eine Tatsache, die dem Oberfeldwebel seit seinen Anfängen als Unteroffizier seitens der Untergebenen nicht mehr passiert war.
Schwanecke hatte ein Meisterstück vollbracht.
Hinter der Baracke 2, in welcher der erste und der zweite Zug der 2. Kompanie lagen, stand eine Kiste. Und in der Kiste lag ein Kaninchen.
Oberfeldwebel Krüll ging zuerst daran vorbei, ohne sonderlich darauf zu achten, obwohl eine Kiste hier nichts zu suchen hatte. Er war zu sehr mit dem Problem Oberleutnant Bevern und der vorgeschriebenen Abmagerungskur beschäftigt. Dann aber blieb er stehen, rekapitulierte das Geschehene und fuhr wie von einer Tarantel gestochen herum.
Ohne Zweifel: Es war eine Kiste, und in der Kiste hockte ein lebendes, wohlgenährtes Kaninchen.
»Wem gehört das Viehzeug?« schrie Krüll außer sich.
Wütend blickte er auf die Soldaten, die nach dem Revierreinigen frei hatten und in den letzten Strahlen der herbstlich flachen Sonne standen. »Deutschmann, wem gehört das Vieh?«
»Ich weiß es nicht, Herr Oberfeldwebel!« brüllte Deutschmann zurück. Er hatte bereits gelernt, daß die Lautstärke beim Militär wesentlich war. Je lauter, desto besser. Je lauter der Soldat, desto mehr wird er von seinen Vorgesetzten geschätzt.
»Mir -«, sagte Schwanecke und trat zwei Schritte vor.
»Ach -«, schnappte Krüll.
»Jawohl. Ich bin ein Tierfreund, Herr Oberfeldwebel.« Schwanecke strahlte Krüll an. »Ich kann ohne so ein kleines, liebes Tierchen nicht leben.«
»Woher?«
Krüll stand über die Kiste gebeugt und betrachtete das fette Tier. Es ließ ab von einer Mohrrübe und rückte erschreckt in den Hintergrund. Drei Fragen peinigten den Oberfeldwebel:
Erstens: Woher kam das Kaninchen?
Zweitens: Woher kam die Kiste?
Drittens: Woher kam die Mohrrübe?
»Zugelaufen -«, sagte Schwanecke.
Der Oberfeldwebel wandte sich wortlos ab und ging. Vor der Schreibstube traf er auf Oberleutnant Obermeier, der gerade das Lager verlassen wollte, und meldete ihm den unerhörten Vorfall. Doch dieser hatte nur ein halbes Ohr für Krülls Nöte. »Freuen Sie sich doch über das Leben in der Kaserne, genießen Sie es noch ausgiebig!« sagte er und klopfte dem strammstehenden Spieß auf die Schulter. »Wenn wir einmal nach Rußland kommen, wird das sowieso anders.«
Dann ging er, und Krüll stand allein auf dem weiten Platz und sann darüber nach, was der letzte Satz bedeuten sollte. Vor dem Wort »Rußland« hatte er eine höllische Angst. Weil er aber die Fähigkeit besaß, Unangenehmes alsbald fortschieben zu können, und weil er wußte, daß es nichts einbringt, sich mit Rätseln herumzuschlagen, gab er die unnützen Überlegungen auf und wandte sich wieder dem naheliegenderen und greifbaren Problem zu - dem Schützen Schwanecke und seinem Kaninchen.
Mit großen, weit ausholenden Schritten eilte er um die Baracke.
»Geklaut!« sagte er zu Schwanecke, als er ankam. Es klang endgültig, es gab keine Zweifel mehr.
»Zugelaufen!«
»Und die Kiste ist auch zugelaufen, was? Und die Mohrrübe ist auch zugelaufen, was? Kommt durch die Luft gesegelt -sssst - schon ist alles da!«
»Jawohl, Herr Oberfeldwebel!«
Krüll zog die Luft durch die Nase ein, bis es aussah, als würde er jeden Augenblick platzen. »Um den Platz! Marsch, marsch!« brüllte er. »Schneller! Schneller!«
Schwanecke trabte und grinste.
»Noch einmal!« schrie Krüll, als Schwanecke zurückgelaufen kam. Und Schwanecke trabte wieder. Dann blieb er schnellatmend vor Krüll stehen.
»Geklaut!«
»Aber, Herr Oberfeldwebel! Was denken Sie von mir? Zugelaufen!«
Das war der Augenblick, in dem es Krüll innerlich einen Riß gab. Er wandte sich stumm ab, um wegzugehen - und stolperte fast über Oberleutnant Bevern, der unbemerkt herangekommen war und wortlos die Szene beobachtete.
Krüll wollte eine Meldung machen, doch Bevern winkte ab. Langsam, mit einer dünnen Gerte seine Stiefel peitschend, trat er gegen Schwanecke.
»Sie sind also ein Spezialist in Karnickeln?« fragte er freundlich.
»In Karnickelböcken.«
Deutschmann drehte sich ab. Er konnte es nicht mehr mitansehen. Mein Gott, dachte er, der Mann redet sich noch einmal vor ein Erschießungskommando!
Bevern zog die Augenbrauen hoch. »Wieso Böcken?«
»Ich benutze sie zu Studienzwecken, Herr Oberleutnant. Ir-gend’ne Kleine sagte einmal zu mir, ich wäre ein Kaninchenbock. Seitdem beobachte ich die Viecher, aber ich bin noch nicht draufgekommen, was sie damit meinte.«
»Und - das Kaninchen war plötzlich da. Es ist Ihnen einfach zugelaufen?«
»Jawohl. Es saß auf einmal vor mir und machte Männchen. Daran erkannte ich, daß es ein Kaninchenbock war.«
»Wieso?«
»Eine Häsin würde ein Weibchen machen, Herr Oberleutnant.«
Auf dem Appellplatz geschah dann etwas, was sogar Hauptmann Barth zuviel wurde. Er öffnete das Fenster und stoppte die Bevernsche Stunde mit einem kurzen und lauten »Halt!«
Schwanecke mußte sich auf den Bauch legen und quer über den großen Platz hin und her wie ein Wurm kriechen. Durch den Staub, durch den Dreck der Küchenabfälle, durch einige Pfützen aus der verstopften und überlaufenden Latrine der 1. Kompanie, immer das Gesicht auf dem Boden. Und Bevern gab das Tempo an, indem er pfiff.
Nach dreimaliger Überquerung des Hofes ertönte Hauptmann Barths »Halt«.
Lässig, mit federndem Schritt, ging Bevern in die Offiziersbaracke und ließ Schwanecke im Dreck liegen.
»Was soll das, Herr Oberleutnant?« fragte Barth hart, als Bevern eintrat.
»Ich habe diesem Schwanecke beweisen müssen, daß der Mensch vom Lurch abstammt.«
»Unsinn!«
Bevern wurde steif.
»Und damit glauben Sie, den Krieg zu gewinnen?« Hauptmann Barth winkte ab. Gehen Sie! hieß das. Gehen Sie sofort, Sie Dreckhaufen! Bevern verstand und ging. Doch bevor er nach der Türklinke griff, hielt ihn Barths Stimme auf: »Ich würde mir an Ihrer Stelle diesen Mann nicht zum Feinde machen. Wir kommen nach Rußland ... Gehen Sie jetzt!«
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