Schwanecke stand taumelnd auf. Sein Gesicht war dreckverkrustet, unmenschlich verzerrt, schreckenerregend. Schweratmend lehnte er sich an die Barackenwand.
Deutschmann lief weg und brachte ein Kochgeschirr voll Wasser. Dann knöpfte er Schwanecke das Hemd auf. Schwanecke sah ihn mit glasigen, verständnislosen Augen an. In langen Zügen trank er das halbe Kochgeschirr leer und schüttete sich das restliche Wasser über den Kopf. »Oberleutnant Bevern -«, murmelte er dann mit gepreßter, unnatürlicher Stimme.
Deutschmann fröstelte. Mein Gott, dachte er, ich möchte nicht in Beverns Haut stecken.
»Willst du noch Wasser?« fragte er Schwanecke.
»Danke, Kumpel, es war genug. Willst du eine Zigarette?«
In diesem Augenblick bewunderte der vornehme, stille Dr. Deutschmann den Schwerverbrecher Karl Schwanecke. Und in diesem Augenblick faßten der Akademiker und der Kriminelle eine stille, wortlose Zuneigung zueinander, die sie durch das Gefühl, daß sie beide - und alle anderen mit ihnen - nur einen gemeinsamen Feind hatten, um so stärker empfanden.
Die Sache mit dem Kaninchen ging wie ein Lauffeuer durch das Bataillon. Auch Oberleutnant Obermeier erfuhr davon und stellte Bevern zur Rede. »Darf ich Sie aufmerksam machen, mein Herr, daß ich der Chef der 2. Kompanie bin und nicht Sie?!« sagte er scharf. »Sie haben als Adjutant des Kommandeurs keinerlei Befehlsgewalt über die Truppe, sondern haben lediglich als Verbindungsmann zu dienen.«
»Dieser Untermensch«, fing Bevern an, aber Obermeier unterbrach ihn barsch:
»Ungeachtet dessen, daß er zu meiner Kompanie gehört, haben Sie sich mit ihm eine verfluchte Schweinerei geleistet!«
»Wollen Sie mir einen Kurs über meine Pflichten geben? -und wie ich sie auszuführen habe?« Bevern ging zum Gegenangriff über. »Ihre Kompanie ist - ein Sauhaufen, Herr Kamerad!«
»Ich werde Sie für diese Worte vor dem Kommandeur zur Rechenschaft ziehen«, sagte Obermeier kalt. »Übrigens verbitte ich mir von Ihnen die Anrede Kamerad. Wären wir jetzt nicht im Krieg, würde ich es darauf ankommen lassen und Sie links und rechts in Ihr dummes Gesicht schlagen!«
»Herr Oberleutnant -!« Bevern wurde bleich. Mit einer schnellen Armbewegung drückte ihn Obermeier zur Seite, ging an ihm vorbei und ließ ihn stehen.
In seiner Stube nahm Bevern aus dem Schrank eine dünne Mappe und machte hinter dem Namen Fritz Obermeier, Oberleutnant, ein Kreuz. Ich werde es dir zeigen, dachte er, ich werde es dir zeigen .! Das tust du nicht mit mir. Nicht mit mir!
Voll unversöhnlichen Hasses schloß er die Mappe wieder ein.
Oberleutnant Bevern war aus bestimmtem Grund im Strafbataillon 999. Er hatte die Aufgabe, alles zu melden, was in dieser Einheit geschah. Insbesondere sollte er sein Augenmerk auf die politische Zuverlässigkeit des Offiziers und Unteroffizierskorps richten.
Am nächsten Tag erfuhren die Soldaten bei der Befehlsausgabe, daß in zwei Tagen das Bataillon abrückte. Oberfeldwebel Krüll wußte es schon am Abend zuvor. Und deshalb betrank er sich.
Er saß auf seiner Stube und soff.
Ein normaler Mensch trinkt. Er kann auch schnell trinken, er gießt also die Flüssigkeit in kleinen, großen, schnellen oder langsamen Schlucken in sich hinein.
Krüll machte von dieser Regel eine Ausnahme. Ob Bier, Schnaps, Wein, er setzte das Glas oder das Kochgeschirr an die Lippen, öffnete den Mund und schüttete den ganzen Inhalt des Gefäßes in sich hinein, ohne daß man ein Schlucken sah oder auch nur eine Bewegung des Kehlkopfes. »Wie ein Schlauch«, stellte Unteroffizier Hefe einmal halb bewundernd, halb neidisch fest. »Der Kerl kann saufen! Ein Wunder, daß es unten nicht wieder hinausläuft!«
Es gab in der deutschen Wehrmacht eine Reihe von Vorschriften gegen das übermäßige Trinken. Doch wie gern er sonst nach Vorschriften lebte, kümmerte sich Krüll um diese nicht, die zu befolgen ihm sicherlich ganz gut täte. Ganz und gar vergaß er sie aber, wenn er wütend war: Dann artete seine Trinkart zu einem animalischen Saufen aus, dem ein tagelanger Katzenjammer folgte.
Und an diesem Abend hatte er Wut. Und Angst. Wut auf Schwanecke, auf Bevern, auf Obermeier, auf alle Soldaten seiner Kompanie und aller anderen Kompanien rund um den Erdball, auf den Erdball selbst und auf das lausige Leben. Angst hatte er vor Rußland. Vor dem Wort allein und vor allem, was ihm dort widerfahren konnte. Es handelte sich ja nicht nur darum, daß die Russen schossen und ihn treffen konnten. Vielleicht bekam das Bataillon Waffen - und was war einfacher für einen Kerl wie Schwanecke, ihn, den Oberfeldwebel Krüll, anstatt einen heranstürmenden Russen zu treffen?
Oh, du lieber Himmel!
Ein ekelhafter Gedanke.
Eine Bande, dachte er beziehungslos. Eine hundsverfluchte Bande! Man sollte sie alle an die nächste Wand stellen, und peng - peng - peng - . Dann wäre Ruhe für immer.
So soff er und stierte mit glasigem Blick aus dem Fenster über den großen, dunklen Platz. »Scheiße«, sagte er laut. »Rußland -!« Und nach einer Weile: »Aus!«
Er hatte keine Freunde, kein Mädchen, und er hatte nur sich selbst und seine Wut und seine Furcht, seine Stimme, seine Autorität - und ‘n Haufen Soldaten, die ihn haßten.
Das ist verflucht wenig für einen Mann. Krüll fühlte es und soff, bis er umfiel.
In der Unterkunft des 2. Zuges der 2. Kompanie sagte Schwanecke: »Paßt auf, Kumpels, in den nächsten Tagen geht’s ab!«
»Wieso?« fragte Deutschmann.
»Das hat man im Gefühl«, sagte das Rattengesicht.
»Wohin?« fragte Deutschmann.
»Zur Mammi«, grinste das Rattengesicht.
»Halt die Schnauze!« fuhr ihn Schwanecke an, und das Rattengesicht duckte sich. »Im Ernst, ich spür’s in allen Knochen: Es geht weg. Todsicher nach Rußland.«
»Und was sollen wir dort?« fragte Wiedeck von seinem Bett her.
»Das kannst du dir denken«, sagte Schwanecke grinsend.
»Rußland -!« sagte Deutschmann leise.
»‘s ist ein verfluchtes Land«, sagte das Rattengesicht.
»Brauchst keine Angst zu haben, Professor -!« Schwaneckes Grinsen vertiefte sich. Er beugte sich vor und stupste den zusammenfahrenden Deutschmann in die Rippen: »Alles halb so
schlimm. Und eins sag’ ich dir -«, jetzt flüsterte er, »‘s gibt ‘ne Menge Möglichkeiten dort für unsereinen, ‘n Haufen Möglichkeiten! Halt dich nur an mich!«
»Was verstehen Sie darunter?« fragte der Oberst. Aber Schwanecke überhörte die Frage. Er kniff die Augen zusammen und sagte: »Du wirst sehen, Professor, ich bin ein altes Frontschwein. Ich weiß Bescheid: Es gibt ‘ne Menge Möglichkeiten. Wir biegen es so hin, daß du aus’m Staunen nicht herauskommst, so wahr ich Karl Schwanecke heiße! Oder glaubst du, Schwanecke hat Lust, für Führer, Volk und Vaterland den Heldentod zu sterben?«
Julia Deutschmann arbeitete fieberhaft, schnell, doch nicht überstürzt. Sie zwang sich, mit all ihren Gedanken bei der Arbeit zu bleiben; allein so würde es ihr möglich sein, in kürzester Zeit Ernsts monatelange Arbeit zu wiederholen.
So lebte sie gleichsam wie ein Deserteur hinter der Front: Angespannt, gejagt von der allzu schnell und doch so fürchterlich langsam verrinnenden Zeit, von Gedanken an ständig lauernde Gefahr gepeinigt, angstvoll auf das Unausbleibliche wartend und zugleich hoffend, es würde nicht eintreten. Sie arbeitete Nächte hindurch und schlief am Tage, und zuletzt gab es für sie keine Tage und Nächte mehr: Sie arbeitete, bis ihre Gedanken vor Müdigkeit zerflatterten und ihr Kopf auf die Schreibtischplatte sank. Sie aß hastig, ohne zu achten, was sie aß, wenn das Gefühl des Hungers zu stark wurde, um es weiter zu ertragen. Und an einem Abend, während sie eine trockene, dünne Brotschnitte mit Margarine bestrich, mitten im Krieg, in einer vom Grauen gepeitschten Welt, in einer dunklen, verzweifelten Stadt, wurde ihr klar, was es bedeutete, bescheiden und ehrfürchtig zu sein und sich einer großen Aufgabe hinzugeben, die scheinbar nicht zu bewältigen war.
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