»Ich werde mit dem Kommandeur sprechen. Welche Kompanie?«
»Die zweite, Herr Stabsarzt.«
»Gut. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe, Kronenberg!« Dr. Bergen beugte sich über seinen Rapport, und Jakob Kronenberg entfernte sich zufrieden mit einem zackigen Gruß und einer krachenden Kehrtwendung - aber nicht bevor er sah, daß Dr. Bergen notierte: Anfordern Schütze Ernst Deutschmann, zweite Kompanie, als Hilfssani.
»Man muß die Leute zu nehmen verstehen«, sagte Kronenberg später zu Deutschmann. Sie saßen am Fenster, und der Sanitäter weihte seinen Hilfssani in die Geheimnisse des »17 und 4« ein. »Der Deutschmann kommt zu uns, Herr Stabsarzt«, habe ich gesagt, »oder ich gehe!« Kronenberg sah sein Gegenüber an, um sich zu vergewissern, ob seine Worte Wirkung zeigten. Deutschmann staunte ihn pflichtgemäß an. »Da hat er natürlich sofort ja gesagt!«
Und nach einer Weile knallte Kronenberg die Karten hin: »Einundzwanzig!«
Es war ein schöner Abend.
Am nächsten Tag packten die 1. und 2. Kompanie ihre Sachen. Der erste Befehl war umgeändert worden - zuerst rückten die beiden ersten Kompanien ab. Nach fünf Tagen folgten die 3. und 4. Kompanie mit dem Bataillonsstab und dem Revier, das jetzt den Namen »Lazarett« erhielt. Ernst Deutschmann, als neuer Hilfssani, wurde der 2. Kompanie als Sanitäter zugeteilt, was Oberfeldwebel Krüll mit den Worten begrüßte: »Na, Sie trübe Tasse! Sie haben wohl schon gelernt, wie man sich drückt, was? Sie laß ich noch hüpfen!«
Worauf Deutschmann, der tatsächlich überraschend schnell lernte, still entgegnete: »Darf ich Herrn Oberfeldwebel darauf aufmerksam machen, daß ich allein dem Herrn Stabsarzt und dem Herrn Bataillonskommandeur unterstehe?«
»Schnauze!« brüllte Krüll. Aber er raffte sich zu keinen weiteren Gegenmaßnahmen auf, einerseits weil Deutschmann im Recht war, andererseits, weil es nach Rußland ging. Man wußte nie, ob nicht gerade dieser lausige Intellektuelle derjenige war, der einem den ersten Verband anlegte und die Tetanusspritze gab. Oder gar abschleppte -!
Die Reaktion auf Deutschmanns »Beförderung« in seiner Unterkunft war verschieden. Manche beneideten ihn, manche beglückwünschten ihn, und Schwanecke sagte:
»Du hast den richtigen Dreh ‘raus. Das hast du sehr gut gemacht. Dadurch erhöhen sich unsere Chancen, sag’ ich dir!«
»Wie meinst du das?« fragte Deutschmann verblüfft.
Aber Schwanecke antwortete nicht. Er grinste nur vieldeutig und blinzelte ihm zu.
Jakob Kronenberg blieb einstweilen im Revier und würde in fünf Tagen nachkommen, hieß es. Stabsarzt Dr. Bergen rief jede Stunde bei der Sanitätsersatzstaffel an, beschwor den Oberarzt und verlangte den Generalarzt zu sprechen. »Ich brauche einen Assistenten!« schrie er. »Was soll ich allein in Rußland? Bisher hatte ich ein Revier, aber an der Front, bei dem Anfall von Verwundeten! Ich garantiere für keinerlei vorschriftsmäßige ärztliche Versorgung, wenn keine Hilfe kommt!«
In Posen sah man das ein und versprach ihm einen Unterarzt. Aber Dr. Bergen wußte im voraus, daß das wahrscheinlich nur ein Versprechen war wie immer.
Unterdessen packte die Schreibstube der 2. Kompanie die Akten, die Wehrpässe und die wichtigen Schriftstücke in große Blechkisten. Die transportable Einrichtung wurde in Kartons und Holzkisten verstaut, die mit Draht und dicken Bindfäden umwickelt wurden. Darauf kam, mit Tusche gemalt, das taktische Zeichen und die Ziffern 2./999./Ia oder Ib.
In die Schreibstube kam Oberleutnant Obermeier. »Was Neues, Krüll?« fragte er.
»Nein, Herr Oberleutnant. Packen geht planmäßig weiter. Kompanie steht um 20.00 Uhr abmarschbereit.«
»Um 19.00 Uhr Fassen der eisernen Rationen. Alle Unteroffiziere und Feldwebel erhalten Pistolen, Munition und jeder Zug zwei Maschinenpistolen. Wir fahren drei Tage durch Partisanengebiet. Sie sehen so rot aus, Krüll. Haben Sie etwas?«
»Nein, Herr Oberleutnant, nichts.«
Die Schreiber grinsten. Unteroffizier Kentrop rieb sich die Nase. Aber Krüll sah es nicht. In diesen Tagen und Stunden lebte er wie in einem Nebel. Hilfssanitäter Ernst Deutschmann packte seine Ambulanztasche zusammen. Kronenberg half ihm dabei mit fachlichen Ratschlägen und steckte schließlich eine Flasche Kognak zwischen die Medikamente. »Falls dir mal schlecht ist oder gegen Magenschmerzen. Und wenn der >Krüllschnitt< Magenschmerzen hat - die hat er immer, wenn er gesoffen hat, dann gibst du ihm einen großen Eßlöffel Superga-stronomia.«
»Supergastronomia?«
»Rizinusöl heißt das auf deutsch. Der Name stammt von mir.
Krüll hat einen großen Respekt vor ihm. Seinen flotten Durchmarsch schiebt er dann immer auf schlecht gebrannten Schnaps.«
Lächelnd stapelte Deutschmann die Verbandspäckchen und Schnellbinden in der großen Ledertasche, zählte die Leukoplastrollen und die verschiedenen Scheren und Pinzetten. Kopfschüttelnd erinnerte er sich an das Instrumentarium und an all die modernen Geräte, die ihm in Berlin zur Verfügung gestanden hatten. Was soll er im Ernstfall mit diesen paar Pinzetten und Scheren anfangen?
Stabsarzt Dr. Bergen kam in den Raum.
»Haben Sie alles zusammen?« fragte er Deutschmann.
»Jawohl, Herr Stabsarzt.«
»Wenn Sie genau wissen, wo das Lazarett hinkommen soll, versuchen Sie schon, Quartier zu suchen.«
»Wenn Herr Oberfeldwebel mir das erlaubt.«
»Oberfeldwebel?« Dr. Bergen richtete sich auf. »Sie haben von mir den dienstlichen Befehl, für das Lazarett Quartier zu suchen. Mit der 2. Kompanie haben Sie nur verwaltungstechnisch zu tun. Befehle haben Sie nur von mir entgegenzunehmen! Übrigens - was sind Sie - was waren Sie früher von Beruf?«
»Arzt«, sagte Deutschmann.
Dr. Bergen fuhr herum. »Arzt?« fragte er überrascht. »Wieso ... warum?« Er wirkte auf einmal unbeholfen.
»Jetzt bin ich hier«, sagte Deutschmann trocken.
»Ja - jetzt sind Sie hier, jetzt sind Sie hier«, sprach Dr. Bergen hilflos und gab sich schließlich einen Ruck. Jetzt war er wieder so, wie ihn alle kannten: kühl, ruhig, abwesend. »Also tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe.«
»Jawohl, Herr Stabsarzt.«
Deutschmann exerzierte das gleich durch, als er auf die Stu-be kam, wo er Wiedeck und Schwanecke traf. Er packte die Kognakflasche aus und ließ sie kreisen. Und wie stets im unrechten Augenblick tauchte auch diesmal Krüll überraschend auf.
Der Oberfeldwebel zwinkerte überrascht milden Augen, als er die drei Soldaten um den Tisch sitzen sah; offenbar wollte er sich vergewissern, ob ihm seine aufgeregten Sinne nicht nur irgend etwas vorgaukelten. Aber es stimmte: Auf dem Tisch stand eine Flasche Kognak.
»Schütze Deutschmann«, schrie er, »was haben Sie da?«
»Kognak, Herr Oberfeldwebel.«
»Kog.« Krüll machte ein paar Schritte in die Stube und starrte auf die Flasche. Ein guter Dreistern, ein vollendeter, reiner Kognak! Bei diesen drei Schurken! Ein echter Kognak bei Soldaten von 999! »Her damit!« brüllte Krüll auf. »Wo haben Sie den Kognak her? Schwanecke - geklaut, was? Das gibt einen Tatbericht!« Er wollte die Flasche sicherstellen, aber Schwanecke war schneller, griff hämisch grinsend nach der noch halb gefüllten Flasche und gab sie Deutschmann, der sie in seiner Tasche verschwinden ließ.
»Die Flasche ist Eigentum des Reviers, Herr Oberfeldwebel«, sagte Deutschmann erklärend. »Ich wurde gerufen, weil -weil Schütze Schwanecke einen Schwächeanfall bekam. Kognak ist dagegen das beste Mittel.«
Krüll wurde weiß im Gesicht. »Eine Frechheit - Sie - Sie auch - und der Schütze Wiedeck, he?« fragte er gefährlich leise. »Hatte Sodbrennen, Herr Oberfeldwebel. Auch dagegen verordnete ich einen Schluck Kognak.«
»Geben Sie sofort die Flasche her!« Krüll beugte den roten Kopf vor. Doch Deutschmann sah ihm fest in die zusammengekniffenen Augen.
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