Hauptmann Barth, der den Appell durch das Schreibstubenfenster beobachtete, trat jetzt zurück. Bei der 1. Kompanie hielt jetzt Oberleutnant Wernher die obligate Ansprache. Elegant, drahtig stand er vor der Dreier-Reihe und ermahnte mit heller Kommandostimme seine Leute. Beste Kadettenschule, dachte Barth. Der Obermeier denkt zuviel. Wieso jetzt wieder dieser Unsinn mit dem ehemaligen Oberst von Bartlitz und dem Professor Vetterling. Küchenwagen! Als ob er sie dort am Leben erhalten konnte! So ein Unsinn, dachte er, so ein Unsinn ...
Über den Appellplatz rollten die ersten Lastwagen mit dem Bataillonstroß zum Bahnhof.
Mischa Serkonowitsch Starobin saß vor der Erdhütte im Schnee und suchte in seinem Pelz nach Läusen. Die Sonne schien, der Schnee funkelte, an der Front war es still. Ein schöner ruhiger Tag. Um ihn herum lag die Einsamkeit russischer Wälder. Selbst die Wölfe waren weitergezogen, ostwärts, dem Ural und der Mongolei zu. In ihrem alten Revier hausten Soldaten, und die Erde brach auf unter den Granaten. Die Wölfe wurden vertrieben und rannten dem Wind entgegen, der über die unendliche Weite zog; die Zungen weit heraushängend, die Körper nahe am Boden, die kalten, gelben Augen zusammengekniffen. Nur ihre Höhlen blieben zurück, die Dickichte, die verfilzten Wälder, die Urstämme, an denen sich der Sturm brach und in denen der Frost sich verbiß. Jetzt lebten Menschen dort: wieselflinke, erdbraune, wimmelnde Gestalten, gierig wie die Wölfe vor ihnen, doch weitaus gefährlicher.
Manchmal ging ein Flüstern durch die Wälder bei Gorki und Bolschie Scharipy. Es flog von Höhle zu Höhle, von einer eingegrabenen Hütte zur anderen. Wenn dann die Nacht kam, zogen Schemen durch das Unterholz wie große, gepanzerte Ameisen - zum Waldrand, zu der Straße nach Babinitschi, zum Flusse Gorodnia. Aus der Dunkelheit heraus flammte es dann auf, vielfältig, verderbend, den Tod um sich streuend, die Stille der Wälder zerreißend. Menschliche Stimmen schrien auf und verebbten stöhnend, helle Kommandos, Scheinwerfer, die unter Schüssen erloschen, Schatten, die durch den Schnee hetzten und im Waldesdunkel untergingen, als seien sie nie dagewesen. Dann schneite es, und die Flocken bedeckten jegliche Spur des nächtlichen Spuks. Die Sonne an den nächsten Tagen beschien nur kleine Hügel, aus denen eine Hand ragte oder ein gelbblasses Gesicht oder ein Bein in einem derben Stiefel. Oder sie sah einen Menschen, der langsam und schwerfällig über das Schneefeld kroch, die Beine hinter sich herziehend, um Hilfe schreiend ...
»Es ist ein neues Bataillon gekommen, Annaschka«, sagte Mischa und schüttelte den Pelz. »Weiß es der Starschi Leite-nant?«
Anna Petrowna Nikitewna kroch aus der Höhle und schaufelte Schnee in einen zerbeulten Kochtopf. Sie hatte die derben Knochen mittelrussischer Bäuerinnen und das lange, schwarzsträhnige Haar der Mongolinnen.
»Sergej ist bereits in Orscha«, sagte sie.
»Der Satan hole die Deutschen! Sie werden Sergej fangen!« Mischa Starobin erhob sich und zog seinen Pelz an. Er war groß und stark wie ein Bär, mit leicht geschlitzten Augen, einem buschigen Schnurrbart und Beinen, die wie Säulen durch den Schnee stapfen.
»Er wohnt bei Tanja, seinem Täubchen.« Anna Nikitewna lachte.
»Die Neuen haben keine Nummer.« Mischa sah zu, wie Anna den zerbeulten Kessel über das Feuer hing. Der Schnee schmolz langsam. In das Schneewasser würde sie Kapusta tun, ein Stückchen Fleisch - Flügelchen und die Brust einer Krähe. »Gott beschütze Sergej - die Neuen sind verflucht schlimm.«
Mischa sagte Gott, und Anna lachte darüber. Wenn Mischa von Gott sprach, hatte er Angst. Der große, starke Mischa Starobin! Wie kann er Angst haben? dachte sie und rührte in dem Schnee. In die Wälder von Gorki kommt kein Deutscher. Zweimal sind sie um sie herumgezogen. Dort, wo die Wölfe lebten, ist meistens auch der Mensch sicher.
Durch das Dickicht kroch ein kleiner krummbeiniger Mann in einem langen, alten Schafspelz. Seine Fellmütze mit den Ohrenschützern war schneeverkrustet. Als er Mischa und Anna sah, winkte er und arbeitete sich durch den kniehohen Schnee zu der Erdhöhle.
»Brüderchen Pjotr!« Mischa Starobin lachte breit. »Was macht die Kolchose? Von Deutschen besetzt, ha?« Er reichte dem Kleinen die Hand entgegen und zog ihn heran.
Pjotr Sabajew Tartuchin blinzelte mit seinen kleinen, listigen Augen. Er sah mongolischer als ein Mongole aus. Seine gelbe Haut zog sich faltig und pergamentartig über das runde Gesicht, in dem die Nase wie ein Knopf mit zwei Löchern saß. Seine überlangen Arme baumelten am Körper herab, als gehörten sie nicht zu ihm, und seine Schultern waren unverhältnismäßig breit.
»Draußen laufen die Deutschen herum!« Er trat gegen Annas Kessel, warf ihn um und schaufelte mit dem Stiefel Schnee auf die Feuerstelle. Zischend erlosch die Flamme. »Man sieht den Qualm, ihr Holzköpfe! Freßt den Kapusta kalt!«
Anna Petrowna Nikitewna holte den Kessel aus dem Schnee und warf ihn in die Erdhöhle. »Sie werden nicht wagen, in den Wald zu kommen. Sind es viele?«
»Nein, aber wenn sie den Rauch sehen, wissen sie, wo wir stecken.« Pjotr wischte sich über die Augen und über das gelbe, vor Kälte starre Gesicht. »Starschi Leitenant läßt sagen, daß heute nacht Sammeln ist.«
»Och - verflucht!« sagte Mischa und dachte an den verlorengegangenen Kapusta. »Heute nacht?«
»Wir müssen einen Mann der Neuen fragen. Sie haben keine Nummern, nicht einmal Schulterstücke. Vielleicht ist es ein Sonderkommando, um uns zu fangen?«
»Unsinn, wer soll uns fangen?«
»Sie sind ganz frisch aus Deutschland gekommen, junge und alte. Sergej sagt, es sei eine merkwürdige Truppe. Sie haben kaum Waffen ...«
»Und da wollen sie uns fangen?« Mischa lachte dröhnend.
»Sie sollen Geheimwaffen haben, du Esel! Sie kommen noch nach, sagt Sergej.« Tartuchin hauchte in die Hände und schob dann den Kragen seines Pelzes höher gegen das Gesicht. »Wo sind die anderen?«
»Wo sollen sie sein?« Mischa zeichnete einen Kreis in die Luft. »Im Wald natürlich. Du wirst sie treffen, Brüderchen.«
Fluchend stapfte Tartuchin weiter durch den Schnee. Hinter einem Busch verschwand er in der Unergründlichkeit des Waldes. Ab und zu hörte man den Schnee dumpf klatschend von den Bäumen fallen. Dann erstarb auch dieser Laut.
»Heute nacht, Annaschka«, sagte Mischa Serkonowitsch leise, als fürchte er, daß seine Stimme die tiefe Stille stören könnte. »Wenn wir Glück haben, erbeuten wir Büchsenfleisch und Zwieback.«
In Orscha saß Starschi Leitenant Sergej Petrowitsch Denkow am Ofen und blätterte in den Papieren, die ihm Tanja gegeben hatte. Mittelgroß, schlank, braun wie ein Kaukasier, trug er die abgeschabten und vielfach geflickten Sachen eines armen Kolchosbauern, der sich von den Deutschen überrollen ließ und nun in seiner Hütte mühsam sein Leben fristete. Neben ihm wirkte Tanja Sossnawskaja wie ein Bild altrussischer Ikonenmaler. Ihr schwarzglänzendes, glattes Haar war eng an den Kopf gelegt, ihre leicht hervorstehenden Backenknochen gaben dem schmalen Gesicht mit den großen Augen den Zauber und das Geheimnis östlicher Weiten. Sie trug eine wollene Bluse, eng über die runden Brüste gespannt, und dicke gesteppte Hosen, die in weichen Juchtenlederstiefeln steckten.
Oberleutnant Denkow hatte sie schon eine Weile angesehen.
»Du bist schön, Tanjuschka .«
»Lies die Papiere, Serjoscha.« Sie blies mit gespitzten Lippen in das Feuer des gemauerten Herdes und hörte auf das Summen des Wassers im Kessel. »Ich koche dir einen starken Tee.« Sie sah vom Feuer hoch, ihr Gesicht war von den Flammen gerötet. »Wann mußt du wieder gehen?«
»In zwei Stunden.« Denkow legte die schmalen Hände auf die Papiere. »Woher hast du sie?«
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