Während sie langsam an dem abscheulich schmeckenden Margarinebrot kaute und einen dünnen Pfefferminztee trank, kam eine große Ruhe über sie.
Als sie das Geschirr wegräumte, begannen die Sirenen zu heulen. Vorwarnung. Und schon einige Minuten darauf Fliegeralarm.
Mutterseelenallein saß sie im Keller ihres Hauses, in einem Inferno von Abschüssen und Bombenexplosionen, zitternder Wände und stauberfüllter, trockener Luft, die ihr den Atem ab schnürte und sie zum Husten zwang. Doch auch jetzt noch blieb sie ruhig, als hätte sie von irgendwem, der stärker war als die Bomben, die Zusicherung erhalten, ihr würde nichts geschehen. Sie betete, stumm, mit kaum sichtbar sich bewegenden Lippen, die Hände im Schoß gefaltet, reglos, steif aufgerichtet.
Sie kam davon. In der Nachbarschaft wurden einige Häuser zerstört, in den Zimmern ihrer Wohnung flackerte rötlich der Widerschein naher Brände. Sie schloß die Fenster und zog die Verdunkelungsvorhänge herab. Einige Scheiben waren zertrümmert.
Als sie die Scherben zusammenfegte, klingelte das Telefon.
Sie richtete sich auf, fragend, als verstünde sie nicht, was das schrille, scharfe Läuten bedeutete.
Dann hob sie den Hörer ab.
Am anderen Ende meldete sich Dr. Kukill.
»Ich wollte nur fragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?« fragte Dr. Kukill. Seine Stimme klang atemlos, abgehackt und etwas unsicher.
»Warum wollen Sie das wissen?« fragte Julia. Und sie überraschte sich dabei, daß ihr seine Stimme fast wohltat: Es war einfach eine menschliche Stimme, die zu ihr sprach, in dieser gespenstigen, durch einen rötlichen Feuerschein und entferntes Prasseln erfüllten Stille. Egal, wem sie gehörte. Und erst nach und nach wurde ihr bewußt, daß der Mann sprach, der ihr Glück zerstört hatte, durch dessen Schuld sie in diesen alptraumähnlichen Zustand geworfen wurde, in dem sie wie in einer ewigen Nacht ohne Aussicht auf Licht leben mußte.
»Nach diesem Angriff - nun, ich bin froh, daß Ihnen nichts passiert ist, Kollegin.« Jetzt schlug er wieder seinen leichten plaudernden Ton an, an dem das Verwunderlichste war, daß er ihn auch ihr gegenüber so leicht anwenden konnte, als spräche er mit irgendeinem beliebigen Bekannten. »Ist Ihr Haus ganz geblieben?«
»Ja, nur einige Scheiben sind kaputt.«
»Das kann man verschmerzen. Ich schicke Ihnen morgen einen Mann, der neue einsetzen wird. Aber ich glaube doch, es wäre besser, wenn Sie bei einem Fliegeralarm in einen sicheren Luftschutzbunker gingen.«
»Mir passiert schon nichts.«
»Darf ich morgen nach Ihnen sehen?«
»Ich weiß nicht, welchen Sinn es hätte.«
»Darf ich?«
»Bitte nicht, ich bin sehr beschäftigt.«
»Was tun Sie? Etwa ...?«:
Stille.
»Ganz recht. Ich habe es Ihnen ja gesagt.«
Und dann beschwörend: »Machen Sie keine Dummheiten, tun Sie nichts Unüberlegtes. Sie wissen, wie gefährlich das ist, wie könnte ich Sie nur davon abhalten?«
»Es hätte keinen Zweck, mich davon abhalten zu wollen.« Sie lächelte abwesend. Dieses Gespräch war unwirklich, widersinnig und auch ein bißchen komisch. Der Mann, an den sie nur mit Haß im Herzen denken konnte, der Mann, dessen Gutachten Ernst zu verdanken hatte, daß er in das Strafbataillon kam, beschwor sie, vorsichtig zu sein, von der Arbeit abzulassen, nur um - warum eigentlich? Etwa .?
Sie legte auf, ohne auf die verzerrte, aufgeregte Stimme zu achten, die aus dem Hörer kam.
Dann ging sie zurück ins Laboratorium. Zum Glück waren hier die Scheiben ganz geblieben. Sie zündete eine Kerze an und setzte sich hinter den Schreibtisch. Vor ihr war eine lange und jetzt nach dem Angriff hoffentlich auch ruhige Nacht. In anderen Vierteln Berlins aber wüteten Brände ...
Deutschmann fiel um, als er langsam, gemächlich über den Kasernenhof gegen die Küchenbaracke ging, wohin er zum Kartoffelschälen geschickt wurde. Der Schwächeanfall kam plötzlich, ohne vorherige Ankündigung; vor seinen Augen fingen helle Punkte, Kreise und Flecke zu tanzen an, er machte die Augen krampfhaft auf, von den Beinen aufwärts kroch über seinen Körper lähmende Schwäche, er fragte sich überrascht, was das bedeuten sollte - und dann stürzten der Hof vor ihm, die Baracken und die Bäume dahinter empor und begruben ihn unter sich.
Er konnte kaum lange ohnmächtig gelegen haben.
Als in der Dunkelheit, die ihn umgab, wieder die Kreise, Punkte und Flecke zu tanzen begannen und immer heller wurden, als er erstaunt und nicht begreifend die Augen aufriß, sah er ganz nahe vor seinen Augen eine Pfütze. Zugleich fühlte er auf seinem Gesicht nasse Kälte. Er verstand immer noch nicht. Erstaunt, aber auch ein wenig gleichgültig, fragte er sich, wo er sei und wie er hierhergekommen war. Wie kam er dazu, mit der Wange in einer Pfütze zu liegen, und warum gelang es ihm nicht aufzustehen?
Er versuchte, die Beine unter den Leib zu ziehen, doch über seinen Körper lief nur ein langes Zittern.
Dann hörte er schnell näherkommende, trampelnde Schritte.
Erich Wiedeck beugte sich über den regungslos daliegenden
Deutschmann.
»Ernst!« sagte er erschrocken, »Ernst, was ist denn los?«
Er drehte ihn um und knöpfte ihm den Uniformrock auf. Deutschmann starrte ihn aus glasigen Augen, die nichts verstanden, an, machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen, doch über seine Lippen kamen nur kleine, lallende Laute.
Wiedeck überlegte nicht lange. Er hob den Freund auf die Schulter und wunderte sich, daß der lange, große Mann so leicht war.
Schnell trug er ihn in den etwas abseits gelegenen Teil des Lagers, wo die Revierbaracke lag.
Es war nichts Ernstes. Ein einfacher Schwächeanfall. Gegen Nachmittag konnte Deutschmann wieder aufstehen. Als er, etwas schwach noch und zitterig in den Beinen, aufstand und durch den schmalen, langen Gang der Revierbaracke zur Toilette ging, sah er unten die Tür aufgehen. Zwei Soldaten schleppten keuchend eine Trage hinein. Hinterher lief aufgescheucht wie ein Huhn der Sanitäter Kronenberg.
Deutschmann drückte sich an die Wand und ließ die Gruppe vorbei. Auf der Trage lag ein Soldat mit erschreckend violett verfärbtem Gesicht. Sein Mund schnappte weit offen nach Luft, seine Hände fuhren unablässig über die Brust zum Hals und wieder hinab, und sein Körper bäumte sich in kurzen Abständen auf, als wollte er aufstehen und in seiner Pein und Atemnot weglaufen.
»Und der Chef ist nicht hier - was soll ich tun - der Chef ist doch nicht hier!« jammerte Kronenberg verzweifelt.
»Du bist der Sani - du mußt es wissen!« keuchte ein Soldat, dessen Hände die Trage umklammerten.
Deutschmann trat hinter ihnen ins Behandlungszimmer. Kronenberg, der sonst wie ein Wachhund aufpaßte, daß kein Unberufener »seine« Räume betrat, wie er das Revier nannte, kümmerte sich nicht um ihn. Hilflos lief er umher, ohne zu wissen, was er tun sollte. Es war ihm nicht zu verübeln: Nach einem Schnellkursus in »Erster Hilfe« wurde er Sanitäter - und dieser Mann, den die Soldaten jetzt behutsam und ängstlich auf das Sofa legten, kämpfte offensichtlich mit dem Erstickungstod. Oder mit etwas anderem - weiß der Teufel, auf alle Fälle sah es so aus, als könnte er jeden Augenblick sterben.
»Wo ist der Chef?« fragte ein Soldat.
»Weggefahren«, sagte Kronenberg, »ich weiß nicht .«
»Dann such ihn halt!«
»Wo soll ich ihn suchen?«
»Was hat er denn?« fragte Deutschmann, trat zum Liegenden und beugte sich über ihn.
»Verstehst du etwas davon?« fragte Kronenberg mit wiedererwachender Hoffnung.
»Ein wenig«, sagte Deutschmann. »Was hat er?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Mensch - du bist vielleicht ein Sani!« sagte ein Soldat.
»Du hast ihm doch vorhin eine Spritze gegeben!« sagte der zweite.
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