Lea ließ die Schultern sinken und zog Sarah ihrerseits an sich.
»Nur wir drei konnten entkommen. Vater und Samuel sind tot und Gerschom ebenfalls. Du bist Witwe geworden.«
Die Wirtschafterin stöhnte auf und fiel sichtlich in sich zusammen. Für einen Augenblick bedeckte sie ihre Augen und ließ die Tränen über ihre Hände fließen. Als sie die Arme sinken ließ, wirkte sie grau und vor der Zeit vergreist, gleichzeitig aber auch grimmig und entschlossen, keine ihrer Pflichten zu versäumen. Sie drehte sich zu Saul um, der sich gerade unauffällig entfernen wollte, und befahl ihm, Elieser vorsichtig mit anzuheben und ins Haus zu bringen. Zu dritt trugen sie ihn die Treppe hinauf in sein Zimmer. Als Lea Sarah helfen wollte, Elieser zu waschen und mit einem frischen Hemd zu versorgen, scheuchte die Wirtschafterin sie mit einem vernichtenden Blick auf ihre Männerkleidung aus dem Zimmer.
»Das ist keine Aufgabe für ein junges Mädchen. Außerdem bist du viel zu schmutzig. Geh ins Waschhaus! Ketura wird dir und Rachel warmes Wasser und anständige Kleider besorgen.«
Rachel verzog den Mund wie ein enttäuschtes Kind. »Ich habe Hunger!«
Sarah schüttelte abwehrend den Kopf. »Essen gibt es erst, wenn ihr sauber seid und in euren eigenen Sachen steckt.«
Lea wusste, dass Widerspruch zwecklos war, und folgte Sarahs Tochter. Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal um. »Bitte ruf mich, wenn die Ärzte da sind. Ich muss wissen, wie es um Elieser steht.«
Sarah versprach es und schob die trotzig stehen gebliebene Rachel hinter ihr her.
Als Lea in dem Bottich mit warmem Wasser lag, kämpfte sie gegen den Wunsch an, sich mit sämtlichen Duftölen einzureihen, die auf dem Bord über ihrem Kopf standen. Sie hatte immer noch den Gestank des Kellerlochs in der Nase und das Gefühl, als hätte sich der Dreck, in dem sie hatten hausen müssen, tief in ihre Haut gefressen. So eitle Dinge wie Rosenduft, Flieder oder Lavendel widersprachen jedoch ebenso den Regeln über das Verhalten in der Trauerzeit wie der Genuss eines ausgiebig langen, warmen Bades. Daher wusch sie sich hastig, trocknete sich ab und schlüpfte mit einem Seufzer der Erleichterung in ihre gewohnte Kleidung.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht mehr jene Lea zu sein, die vor zwei Wochen abgereist war. Für einen Moment nahm sie an, sie vermisse nur die Bewegungsfreiheit der Männerkleidung, dann aber verriet ihr der Spiegel, den Ketura ihr hinhielt, was sie wirklich störte. Mit ihren kurzen Haaren glich sie eher ihrem Bruder Samuel, dem man die Schläfenlocken abgeschnitten und in ein Frauenkleid gesteckt hatte, als sich selbst. Ketura beklagte den Verlust von Leas kupferfarbenen Flechten, wie sie sie nannte, mit einer Inbrunst, als hätte man sie selbst geschoren, doch Sarah, die kurz darauf mit einem kleinen Bündel in der Hand die Kammer betrat, befahl ihrer Tochter barsch, den Mund zu halten.
»Lea hat ihr Haar dem Überleben ihrer Geschwister geopfert. Du solltest sie daher nicht beklagen, sondern lobpreisen, denn sie hat wie eine wahre Tochter Israels gehandelt. Aber es gehört sich nicht, wenn jemand sie so sieht, und man spricht auch nicht darüber.«
Sie öffnete das Bündel und brachte eine Perücke mit langen, schwarzen Haaren zum Vorschein, die einst Leas Mutter gehört hatte. Als fromme Jüdin hatte Jakob Gold-staubs Weib nie ihr eigenes Haar vor fremden Leuten gezeigt, sondern ihren Kopf mit einer Perücke anstatt mit einem Tuch bedeckt. Sarah hatte Ruth Goldstaub geliebt und verehrt und ihre persönlichen Besitztümer nach ihrem Tod wie Reliquien aufbewahrt. Jetzt opferte sie einen Teil ihres Schatzes, um Lea wieder in ein weibliches Wesen zu verwandeln.
Sie setzte ihr die Perücke auf und prüfte ihren Sitz von allen Seiten. »So, jetzt kannst du wieder unter die Leute gehen. Der sehr gelehrte Herr Doktor Petrus Molitorius ist bei Elieser.«
Sarahs Stimme verriet, wie wenig sie von dem Christenarzt hielt, der immer nur Dämonen und üble Mächte als Ursache von Krankheiten diagnostizierte. Da er der einzige Mediziner in der Stadt und zudem der Leibarzt des Markgrafen war, wurde er von jedem konsultiert, der es sich leisten konnte. Außer ihm gab es nur noch den Wundarzt Veit Steer, mit dem ihn eine herzliche Feindschaft verband, und einen Bader, der sich ebenfalls auf das Einrichten gebrochener Knochen verstand. Lea warf noch einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass ihre Ähnlichkeit mit Samuel wieder verschwunden war. Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Sarah drängte sie, nach oben zu gehen.
In Eliesers Kammer war Doktor Molitorius gerade mit seiner Untersuchung fertig geworden. Er hielt Lea und Sarah einen gestelzt klingenden und mit lateinischen Worten gespickten Vortrag über die bösen Fieberdämonen, die den Kranken in ihren Klauen hielten, drückte ihnen eine Flasche mit einem graubraunen Saft in die Hand, der üble Mächte vertreiben sollte, und kassierte dafür ein stattliches Honorar. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, roch Sarah an der Flasche und entleerte sie in den Nachttopf unter Eliesers Bett.
»Warum hast du nur diesen Quacksalber geholt, Lea? Willst du, dass er unseren Jungen mit seinem Zeug ins Grab bringt?«
»Du weißt doch, wie groß sein Einfluss bei Hofe ist. Hätten wir nicht ihn konsultiert, sondern nur den Wundarzt, würde er uns alle möglichen Schwierigkeiten bereiten.«
Die Ankunft von Veit Steer, der seine Erfahrungen als Chirurg auf den Feldzügen des kaiserlichen Heeres gemacht hatte und immer so grimmig wirkte, als hätte er ein ganzes Lazarett voll Verwundeter vor sich, hielt Sarah von weiteren bösen Bemerkungen ab. Der Wundarzt flößte dem Kranken zunächst frischen Mohnsaft ein und nahm sich dann Zeit, seine Verletzungen gründlich zu untersuchen. Nach einer Weile sah er auf und starrte Lea durchdringend an. »Wer hat dem Jungen die Schienen angelegt?«
Lea zuckte unter seinem barschen Ton zusammen, denn sie fürchtete, sie hätte alles falsch gemacht. »Ich!«, presste sie mit kläglicher Stimme hervor. Der Chirurg nickte anerkennend und verzog seine Lippen zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte. »Sehr gut. Ich hätte es nicht besser machen können. Wäre dein Bruder nicht so gut versorgt worden, hätte er die Reise nicht überstanden.«
Lea errötete und murmelte einen höflichen Dank für das Lob, doch Veit Steer beachtete sie schon nicht mehr. Er inspizierte Eliesers Wunden so sorgfältig, als wollte er den Heilungsprozess mit den Augen beschleunigen, schließlich nickte er Lea anerkennend zu. »Wenn ein Mädchen Wundärztin werden dürfte, würde ich dich auf der Stelle ausbilden.«
»Der Gott Israels hat meine Hand gelenkt«, wehrte Lea sein Lob ab und sah aufmerksam zu, wie der Arzt die noch offenen Verletzungen mit einer scharf riechenden Tinktur betupfte und frisch verband.
Nachdem er ihr und Sarah noch einige Anweisungen gegeben hatte, wie sie Elieser versorgen mussten, verabschiedete sich der Arzt herzlich von Lea. »Hab ein bisschen mehr Selbstvertrauen, Mädchen. Du wirst es dringend brauchen.«
Als er das Haus verließ, blickte Lea ihm durch das geöffnete Fenster nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Was hatte Veit Steer mit seinen letzten Worten gemeint? Hatte ihm jemand erzählt, dass Samuel tot und die Familie ohne tatkräftiges Oberhaupt war? Oder spielte er auf den Markgrafen und dessen vielleicht schon bekannt gewordene Pläne mit seinen jüdischen Schützlingen an? Für einen Augenblick wünschte sie, sie hätte den Wundarzt gefragt, aber dann sagte sie sich, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen durfte. Da Gott ihr geholfen hatte, Elie-sers Leben zu retten, würde er ihr auch beistehen, damit sie die Gnade des Landesherrn erlangte. Ihr blieb jetzt nur, all ihren Mut zu sammeln und an diesem Abend noch zur Burg hochzusteigen.
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