Eigentlich wäre das Eliesers Aufgabe gewesen. Ihr Bruder hatte die Reise zwar recht gut überstanden, würde aber noch viele Wochen lang das Bett hüten müssen. Also gab es für sie keinen anderen Ausweg, als für ihn einzuspringen, und sie würde es bald tun müssen, denn wenn der Markgraf vom Tod seines Hoffaktors erfuhr, bevor sie es ihm mitteilte, bestand die Gefahr, dass er das Vermögen ihrer Familie beschlagnahmen und sie alle aus Harten-burg vertreiben ließ.
Tief in ihre Sorgen verstrickt nahm Lea kaum wahr, wie sich das enge Tal, durch das sie zogen, mit einem Mal weit öffnete und den Blick auf die Wehrmauern von Har-tenburg und die über der Stadt thronende Burganlage freigab. Der Ort selbst zog sich über der hier noch recht jungen Sarn an einem Ausläufer des Rauchbergs bis zur alten markgräflichen Festung empor. Er zählte höchstens ein Viertel der Einwohner Sarningens und bestand aus schmalbrüstigen Fachwerkhäusern, die sich hinter der wuchtigen Umfassungsmauer eng um den Marktplatz und die St. Kolomanskirche scharten. Die Festung und das ebenfalls mit hohen Mauern gesicherte Schloss lagen auf einem weit vorspringenden Felssporn, ganz oben die schwer befestigte Bastei mit ihren vier mächtigen Rundtürmen, darunter die modernere Anlage, die der Vater des jetzigen Landesherrn hauptsächlich von den Abgaben des Juden Jehuda und dessen Sohn Jakob Goldstaub hatte bauen lassen. Der Markgraf wohnte in den komfortabel eingerichteten Räumen im neuen Teil, während die alte Burg nur noch als Zeughaus und als Garnison für die Soldaten genutzt wurde.
Hartenburg hatte drei Tore, eins für die Handelsstraße, über die Lea sich mit ihren Geschwistern der Stadt näherte, eins, das auf die Straße hinausging, die tiefer in den Schwarzwald führte, und ein drittes, das die markgräflichen Bauten mit der Stadt verband. Als Lea den Schatten des Straßburger Tors auf sich fallen sah, gesellte sich zu ihren Sorgen die Angst, die Wächter könnten sie abweisen. Es waren keine städtischen Büttel wie in Sarningen, sondern Reisige des Markgrafen, die die Reisenden kontrollierten und ihre Ankunft an die markgräfliche Kanzlei meldeten. Als Lea ihren Karren auf die Männer zuschob, vertrat einer von ihnen ihr mit grimmigem Gesicht den Weg.
»Wer seid ihr, und was führt ihr mit euch?« Seine Stimme klang jedoch nicht unfreundlich.
»Friede sei mir dir«, antwortete sie und bemerkte erst dann, dass sie in ihrer Anspannung den gewohnten jüdischen Gruß verwendet hatte.
Der Soldat zog verwundert die Augenbrauen hoch, musterte sie misstrauisch und wies dann auf Rachel. »Sag mal, bist du nicht die Tochter des Juden Goldstaub?«
Rachel nickte schüchtern. Der Soldat lachte und klopfte Lea auf die Schulter. »In diesem Gewand hätte ich dich beinahe nicht erkannt, Samuel. Ihr hattet wohl Angst wegen des Sarninger Pogroms. Wir haben auch schon gehört, dass Fremde das Volk dort gegen die Juden aufgewiegelt haben und es zu einer Vertreibung kam. Aber keine Sorge, jetzt seid ihr ja in Sicherheit.«
Lea war für einen Moment verblüfft, dass der Mann, der Samuel beinahe tagtäglich begegnet war, sie mit ihrem älteren Bruder verwechselte. Im ersten Impuls wollte sie den Torwächter auf seinen Irrtum aufmerksam machen, doch dann sagte sie sich, dass es besser war, wenn sie die genauen Umstände des Massakers für sich behielt, bis sie mit dem Markgrafen gesprochen hatte.
»Ja, das stimmt. Die Sarninger haben mehrere Juden erschlagen und ihre Häuser geplündert. Mir erschien es besser, meinen Bruder und meine Schwester unerkannt nach Hause zu bringen.«
Der Wächter trat an den Karren und wies auf Eliesers ausgezehrtes Gesicht. »Was hat der Junge? Hoffentlich keine ansteckende Krankheit.«
Lea schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Er hat sich den Arm und das Bein gebrochen und muss dringend zum Wundarzt.«
»Dann mal rasch rein mit den jungen Pferden.« Der Wächter gab lachend den Weg frei und kehrte zu seinem Kameraden zurück.
»Wie du siehst, hast du umsonst gehofft, die Juden würden nicht mehr zurückkommen«, hörte Lea ihn sagen. »Also wirst du das Geld, das dir der alte Goldstaub geliehen hat, bis zum letzten Heller zurückzahlen müssen.«
Der andere winkte ärgerlich ab. »Ich hätte so oder so zahlen müssen. Wenn der Jude das Geld nicht zurückfordert, so tut es der Markgraf an seiner Stelle. Ich muss sagen, da ist mir der alte Goldstaub noch lieber, denn mit dem kann man wenigstens noch reden.«
Mehr konnte Lea nicht verstehen, denn der Lärm der Gassen schlug über ihr zusammen, und so bekam sie nicht mit, wie der Wächter seinen Kameraden anwies, ins Wachbuch einzutragen, dass der Jude Samuel, Sohn des Jakob Goldstaub, mit seinen Geschwistern von der Reise zurückgekehrt sei.
J akob Goldstaubs Haus war weder größer noch prunkvoller als die Häuser seiner Nachbarn. Die Mauern bestanden aus dem gleichen braunen Fachwerk, und das Dach war ebenfalls mit dunkelgrauen Schieferplatten gedeckt. Auch bestanden die Füllungen der Fenster nicht aus Glas, sondern aus dünn geschabtem und eingeöltem Kalbsleder. Nur der Hof war um einiges größer, und die Schuppen, die ihn umgaben, deuteten darauf hin, dass hier größere Warenladungen umgeschlagen wurden. Leas Vater hatte nicht nur den Markgrafen, sondern auch die wohlhabenden Bürger der Stadt und aus der Umgebung mit hochwertigen Gütern aus fremden Ländern versorgt, es aber sorgfältig vermieden, mit seinem auch damit erworbenen Reichtum zu prunken.
Als Lea das Hoftor erreichte, fand sie es verschlossen. Sie pochte heftig dagegen und hörte kurz darauf ein begütigendes »Ja, ja, ich komme ja schon.« Wenige Herzschläge später schwang das Tor auf, und Gerschoms Sohn Jochanan steckte seinen Kopf heraus. Es dauerte mehrere Augenblicke, bis er die abgerissenen Gestalten erkannte, die vor ihm standen.
»Beim Gott Israels, was ist geschehen?« Lea hob warnend die Hand. »Sei still. Die Nachbarn dürfen nichts mitbekommen. Wir sind in das Sarninger Pogrom geraten. Mein Vater, Samuel und dein Vater sind tot, und wir drei konnten nur mit knapper Not entrinnen. Elieser ist schwer verletzt und braucht dringend einen Arzt. Lauf rasch zum Doktor und bitte ihn her, und hol auch den Wundarzt, damit er sich um Eliesers Knochenbrüche kümmert.«
Jochanan war ein magerer Bursche von knapp achtzehn Jahren mit gekrausten braunen Haaren und einem mehr gutmütigen als hübschen Gesicht. Normalerweise konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, jetzt aber riss er die Augen auf wie ein Kalb, das die Klinge des Schächters fühlt, und presste stöhnend die Hände auf den Mund. Als er Leas mahnenden Blick auf sich gerichtet sah, stieß er das Tor so weit auf, dass sie den Handkarren hindurchschieben konnte, und rief nach Saul, dem zweiten Knecht. Der Mann, der seinem Ruf widerwillig folgte, war ein Dutzend Jahre älter als Jochanan und wirkte mit seiner breiten, untersetzten Figur wie ein Bauer aus der Rheinebene. Doch im Gegensatz zu jenen bewegte er sich träge und bequemte sich erst auf die wiederholte Aufforderung des Jüngeren, Lea zu helfen.
Gerade, als Jochanan losrannte, um den Arzt zu holen, stürzte eine ältere, füllige Frau in den Hof, blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Gruppe vor sich entgeistert an. Es war Sarah, die Mutter Jochanans und seiner Schwester Ketura, die als Wirtschafterin im Dienst der Familie stand und alles kontrollierte, was in Haus und Hof vorging. Ihre Lippen formten den Namen Samuel, aber sie brachte keinen Ton heraus. Dann ging ein Zittern durch ihren rundlichen Körper, und mit einem schrillen Aufschrei umarmte sie Lea und zog Rachel in der gleichen Bewegung an sich.
»Vorgestern erst haben wir von dem Pogrom in Sar-ningen erfahren und sind vor Angst um euch bald selbst gestorben. Doch ihr lebt. Der Gott Abrahams, Isaaks und Israels sei gepriesen!«
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