Sie schloss das Fenster und drehte sich zu Sarah um. »Ich gehe zum Markgrafen, um ihm den Tod meines Vaters zu melden.«
Die Dienerin zuckte zusammen und machte ein so angewidertes Gesicht, als hätte Lea etwas Unanständiges gesagt. »Das ist keine Aufgabe für ein Mädchen wie dich.«
»Wer sollte es sonst tun? Elieser ist nicht in der Lage dazu, und wenn wir einen Knecht schicken, würde der hohe Herr es als Beleidigung auffassen.«
Sarah schüttelte abwehrend den Kopf und beschwor Lea, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Da sie jedoch nicht bereit war, ihre Abneigung zu begründen, zog Lea ein Schultertuch über ihr Kleid, bedeckte die Perücke mit einem weiteren Tuch und verließ das Haus. Unterwegs ging ihr immer wieder Sarahs letzter, angsterfüllter Blick durch den Kopf, aber sie kämpfte entschlossen gegen die Furcht und die Unsicherheit an, die ihr die Knie zittern ließen.
Lea hatte den Markgrafen bisher nur gesehen, wenn er auf dem Weg zur Jagd durch die Straßen ritt. Er war ihr immer sehr hoheitsvoll und gnädig erschienen, aber ihr Vater hatte trotz oder gerade wegen seines Reichtums in ständiger Furcht vor ihm gelebt. »Die Huld des Markgrafen ist ein wankelmütiges Ding«, hatte Jakob ben Jehuda Samuel einige Male erklärt. »Wenn wir ihn nicht bei Laune halten, kann es passieren, dass er uns in einem Wutanfall alles nimmt, was wir besitzen, und uns als Bettler aus der Stadt treiben lässt.« An diese und andere Bemerkungen, die den Charakter des Landesherrn nicht im besten Licht erscheinen ließen, erinnerte Lea sich umso deutlicher, je näher sie der Residenz kam, und es wurde ihr klar, was für ein großes Risiko sie mit diesem Besuch einging. Doch es gab keinen anderen Ausweg. Verschwieg sie dem Landesherrn den Tod ihres Vaters, würde es so aussehen, als brächten seine Leibjuden ihm nicht genügend Achtung entgegen, und was dann geschehen würde, hatte sie den Worten ihres Vaters oft genug entnehmen können.
Vor dem Standbild mit drei steinernen Löwen, welches das Tor zur unteren Burg bewachte, blieb Lea einen Augenblick stehen, um ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Die Löwen zeugten von der hohen Meinung, die der Markgraf von sich hatte, denn sie sollten jedermann kundtun, dass Ernst Ludwig seinen Stammbaum bis auf die Stauferkaiser zurückführte, wenn auch nicht über die direkte Linie.
Einer der Torwächter kam auf Lea zu und fragte sie barsch, was sie hier zu suchen hätte.
»Verzeiht den späten Besuch, aber ich möchte unseren allergnädigsten Herrn sprechen. Es ist dringend.«
Der Mann musterte ihre jüdische Tracht und verzog das Gesicht. »Was will eine wie du von Seiner Durchlaucht?«
»Ich bin Jakob ben Jehudas Tochter und muss dem hohen Herrn eine Nachricht überbringen.«
»Ach so, du bist die Tochter unseres Hoffaktors.« Der Mann tat so erstaunt, als gäbe es außer Goldstaubs Familie noch ein Dutzend anderer jüdischer Familien in der Stadt. Er tauschte einen fragenden Blick mit seinem Kameraden, und als dieser mit den Schultern zuckte, rief er einen Diener an, der eben über den Innenhof ging. »He, Heiner, komm mal her. Kannst du das Mädchen zu Seiner Durchlaucht bringen? Es ist die Tochter des Juden.«
Der Diener trat näher und musterte Lea mit verkniffenem Gesicht. »Ich glaube nicht, dass der Herr dich heute Abend noch zu sehen wünscht.«
»Ich bringe Nachrichten aus Sarningen, und ich fürchte, der Herr wird böse, wenn er sie nicht bald erfährt.« Lea hörte ihre Stimme zittern und wäre am liebsten davongelaufen. Es sah nicht so aus, als wäre Gott ihrem Vorhaben gewogen. Der Diener ging um sie herum und schüttelte spöttisch den Kopf. »Ich glaube nicht, dass eine so dürre Ziege wie du dem Geschmack Seiner Durchlaucht entspricht. Aber wenn du unbedingt selbst erfahren willst, was er von dir hält, dann komm mit. Behaupte aber hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Der Herr ist im Moment ... Nun ja, du wirst es selbst sehen.«
Das seltsame Gehabe des Mannes stieß Lea so ab, dass sie den Rest ihres Mutes zusammennehmen musste, um ihm zu folgen. Er führte sie in ein schmuckloses Nebengebäude und weiter durch einen engen, schmuddeligen Flur, in dem es nach Kohl und menschlichen Ausdünstungen roch, zu einer steilen Treppe, die an einer unauffälligen Tür endete. Dahinter öffnete sich ein Korridor, der mit dicken, farbigen Teppichen belegt war und an dessen Wänden alte Rüstungen, Waffen und Fahnen hin-gen, Trophäen, welche die Herren von Hartenburg im Lauf der Jahrhunderte gesammelt hatten. Der Gang schien kein Ende zu nehmen, doch als Lea sich schon fragte, ob sie in ein verfluchtes Haus geraten war, aus dem niemand mehr hinausfinden konnte, blieb der Diener vor einer mit Schnitzereien überzogenen Rundbogentür stehen und klopfte. Nach kurzer Zeit erscholl eine Antwort, die sich wie ein Wutausbruch anhörte.
»Ich hatte dich ja gewarnt«, sagte der Mann, öffnete die Tür und schob Lea in den Raum. »Verzeiht, Euer Durchlaucht, aber die Tochter des Juden Goldstaub wünscht Euch dringend zu sprechen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sich zurück und schloss die Tür so schnell hinter sich, als befände er sich auf der Flucht. Lea blieb wie gebannt in der glitzernden, von Wachskerzen erhellten Pracht stehen und blinzelte angesichts der plötzlichen Lichtfülle. Erst nach und nach wurde ihr bewusst, dass sie in einem Schlafgemach stand, in das die Grundfläche ihres Elternhauses mindestens zweimal hineinpasste. Die Wände waren getäfelt und abwechselnd mit seltsam unanständig wirkenden Bildern aus der christlichen Mythologie und Wandteppichen mit Jagdmotiven geschmückt. Die Mitte der Rückwand nahm eine wuchtige Bettstatt ein, die von einem hölzernen Betthimmel gekrönt wurde und mit Vorhängen aus blauem, italienischem Samt verschlossen werden konnte. An den Wänden standen große Truhen mit geschnitzten Wappenschilden und anderen kriegerischen Motiven, und in einem Alkoven, dessen Vorhänge ebenfalls hochgebunden waren, war ein weiteres Bett. Der Fußboden bestand aus verschiedenfarbenen Marmorplatten und war mit Wollteppichen bedeckt. Mit einem Schlag wurde Lea sich der fünf Augenpaare bewusst, die sie durchdringend musterten. Zwei gehörten zu einem Paar, das eng umschlungen vor dem Alkovenbett lag, so als wäre es in wildem Spiel zu Boden gerutscht. Ein weiteres dem Hofnarren, der sich wie ein Wurm auf dem Boden herumwälzte, und die letzten beiden dem Markgrafen und einer jungen, schon arg fülligen Frau, die sich an ihn schmiegte.
Ernst Ludwig von Hartenburg war ein großer, schwer gebauter Mann um die vierzig, der im Augenblick nur wenig mit dem hoheitsvollen Herrn gemein hatte, den Lea durch die Straßen hatte reiten sehen. Er saß in hautengen, roten Hosen, die sich zwischen den Schenkeln anstößig wölbten, und einem weit offen stehenden, nicht mehr ganz sauberen Hemd auf einer Fensterbank und hielt einen Krug in der Hand. Er musste dessen Inhalt schon stark zugesprochen haben, denn sein Gesicht war hochrot angelaufen, und seine Augen glänzten wie große, gläserne Murmeln. Seinen freien Arm hatte er um die Schultern der Frau geschlungen, und seine Finger spielten mit den kindskopfgroßen Brüsten, die aus dem Mieder ihres bernsteinfarbenen Kleides quollen.
Die Frau wirkte ebenso betrunken wie der Markgraf, und auch das andere Paar schien dem Wein bereits im Übermaß zugesprochen zu haben. Erst auf den zweiten Blick erkannte Lea den Mann am Alkoven. Es war Dietrich Frischler, der Sekretär und Vertraute des Markgrafen. Die beiden Frauen waren ihr unbekannt, aber ihrer Ähnlichkeit nach musste es sich um Schwestern handeln. Der Hofnarr schien die einzig nüchterne Person im Raum zu sein und gleichzeitig auch das faszinierendste und abstoßendste Wesen, das Lea je zu Gesicht bekommen hatte. Sein Körper war so verwachsen, dass er kaum noch menschlich zu nennen war, doch sein Gesicht war so ebenmäßig und schön wie das eines Engels. Er trug ein aus bunten Fetzen zusammengenähtes Gewand, eine rote Kappe mit Messingschellen auf dem Kopf und hielt eine
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