»Erstens mangelt es uns an Papyrus. Zweitens: die Überprüfung der Kornspeicher, die unter Eure Gerichtsbarkeit fallen. Den Aufzeichnungen der betreffenden Prüfer zufolge soll im Hauptlagerhaus die Hälfte des Kornvorrats fehlen.« Iarrot senkte die Stimme. »Ein ungeheures Ärgernis bahnt sich an.«
Nachdem die Priester die ersten Körner des Getreideschnitts Osiris und Brot der Göttin der Ernte geopfert hatten, wandte sich ein schier endloser Zug von Korbträgern, mit dem kostbaren Nahrungsmittel beladen, zu den Speichern und sang dabei: »Ein, glücklicher Tag ward uns geboren.« Sie stiegen die Treppen hinauf, die zu den Dächern der Kornhäuser führten, und entleerten dort ihre Schätze durch Luken, die von kleinen Falltüren verschlossen waren. In den mal rechteckigen, mal runden Getreidekammern eingelassene Türen erlaubten die Entnahme des Korns.
Der Verwalter der Kornhäuser empfing den Richter mit seltsamer Kälte.
»Der königliche Erlaß zwingt mich, die Getreidevorräte nachzuprüfen.«
»Ein Sachkundiger hat es bereits für Euch getan.«
»Mit welchen Ergebnissen?«
»Die hat er mir nicht mitgeteilt. Sie gehen nur Euch an.«
»Laßt eine große Leiter gegen die Wand des Großspeichers lehnen!«
»Muß ich mich wiederholen? Ein Sachkundiger hat ihn bereits überprüft.«
»Widersetzt Ihr Euch dem Gesetz?« Der Verwalter wurde freundlicher.
»Ich denke nur an Eure Sicherheit, Richter Paser. Dort hinaufzusteigen ist gefährlich. Ihr seid an diese Art Kletterei nicht gewöhnt.«
»Euch ist also nicht bekannt, daß die Hälfte unserer Vorräte fehlen.« Der Verwalter schien verdutzt. »Welch ein Unheil!«
»Und wie erklärt Ihr Euch das?«
»Das Geschmeiß, mit Sicherheit.«
»Gilt dem nicht Eure wichtigste Sorge?«
»Ich überlasse mich hierbei der für Entseuchung und Gesundheitsfürsorge zuständigen Behörde; sie ist die Schuldige.«
»Die Hälfte der Vorräte, das ist ungeheuer!«
»Wenn das Ungeziefer sich ans Werk macht …«
»Richtet die Leiter auf.«
»Völlig unnötig, ich versichere Euch. Das ist nicht die Aufgabe eines Richters!«
»Wenn ich mein Petschaft auf den amtlichen Bericht gesetzt habe, werdet Ihr vor dem Gesetz verantwortlich sein.«
Zwei Knechte schafften eine große Leiter herbei und lehnten sie gegen die Außenwand des Speichers. Mit großem Unbehagen kletterte Paser hinauf; die Sprossen ächzten, die Standfestigkeit ließ zu wünschen übrig. Auf halbem Wege schwankte er. »Verkeilt sie!« forderte er.
Der Verwalter schaute hinter sich, als erwäge er die Flucht.
Kem legte ihm die Hand auf die Schulter, der Babuin näherte sich seinem Bein.
»Gehorcht dem Richter,« empfahl der Nubier. »Ihr wünscht doch wohl keinen Unfall?« Sofort hielt man die Leiter im Gleichgewicht. Ermutigt kletterte Paser weiter. Er gelangte zur Spitze, acht Meter über der Erde, stieß einen Riegel zurück, öffnete eine Luke. Der Speicher war randvoll.
»Unbegreiflich«, meinte der Verwalter. »Der Prüfer hat Euch belogen.«
»Eine andere Erklärung wäre Eure Mitwisserschaft«, meinte Paser.
»Ich bin betrogen worden, seid Euch dessen gewiß!«
»Ich zögere, Euch zu glauben.« Der Pavian stieß ein Knurren aus und zeigte seine Reißzähne.
»Er verabscheut Lügner«, ließ der Nubier ihn wissen.
»Haltet dieses Raubtier zurück!«
»Ich habe keinerlei Gewalt über ihn, wenn ein Zeuge ihn reizt.«
Der Verwalter senkte den Kopf. »Er hatte mir eine gute Entlohnung versprochen, sofern ich mich für sein Gutachten verbürge. Wir hätten das vorgeblich fehlende Getreide allmählich abgesetzt. Es stand ein netter Gewinn in Aussicht. Werde ich mein Amt behalten, da die Missetat nicht stattgefunden hat?«
Paser arbeitete bis spät in die Nacht. Er unterzeichnete die von Beweisgründen gestützte Absetzung des Verwalters und suchte in den Aufstellungen der Beamten vergeblich nach dem fraglichen Prüfer. Ein falscher Name, wahrscheinlich. Die Unterschlagung von Getreide kam nicht selten vor, doch noch nie hatte das Vergehen solche Ausmaße angenommen. Eine Einzeltat, die auf ein Memphiter Kornhaus begrenzt war, oder eine allgemein herrschende Bestechlichkeit? Letzteres würde PHARAOS überraschenden Erlaß als begründet erscheinen lassen. Baute der Herrscher nicht auf die Richter, um Recht und Ordnung wiederherzustellen und die krummen Stöcke aufzurichten? Wenn ein jeder gewissenhaft handelte, ob seine Obliegenheit nun bescheiden oder gewichtig war, würde das Übel rasch beseitigt sein. In der Flamme der Lampe standen Neferets Gesicht, ihre Augen, ihre Lippen. Zu dieser Stunde schlief sie wohl bereits. Dachte sie jemals an ihn?
Kem und dem Babuin begleitet, bestieg Paser das schnelle Segelschiff in Richtung der großen Papyruspflanzungen im Delta, die Bel-ter-an mit königlicher Genehmigung bewirtschaftete. Im Schlamm und Morast konnten diese Stauden mit Bartdolden und Stengeln von dreieckigem Querschnitt die stattliche Höhe von sechs Metern erreichen und wahre Dickichte bilden. Dicht an dicht stehend, bekrönten ihre schirmartigen Blütenstände das kostbare Gewächs. Aus seinen holzigen Wurzeln fertigte man Gegenstände des häuslichen Bedarfs; aus den äußeren Fasern und der Rinde Matten, Körbe, Netze, Taue, Stricke und selbst Sandalen sowie Schurze für die Ärmsten. Die zarten Triebe wurden von den Bauern roh gekaut, deren Saft herausgesaugt und der restliche Brei wieder ausgespien. Was endlich das üppige, schwammartige Stengelmark unter der Rinde betraf, so wurde diesem eine ganz besondere Behandlung zuteil, damit es zu jenem berühmten Papyrus wurde, um das die Welt Ägypten beneidete.
Bel-ter-an begnügte sich nicht mit dem Kreislauf der Natur; so hatte er auf seinem ungeheuren Anwesen die Papyrusstaude nachgerade angebaut, um den Ertrag zu steigern und einen Teil ausführen zu können. Für jeden Ägypter bedeuteten die grün schimmernden Stengel Kraft und Jugend; die Zepter der Göttinnen hatten die Form eines Papyrus, die Säulen der Tempel waren steinerne Papyri. Ein langer Weg war durch das Pflanzendickicht gebahnt worden; Paser begegnete nackten Bauern, die schwere Garben auf ihren Rücken trugen. Vor den großen Lagerhäusern, wo man, im Trockenen, den Rohstoff in Holztruhen oder irdenen Tonbehältnissen aufbewahrte, reinigten Facharbeiter die sorgfältig ausgelesenen Fasern der hauchdünn in Längsrichtung geschnittenen Stengel, bevor sie sie auf Matten oder Holzgestellen ausbreiteten. Die dünnen Streifen von vierzig Zentimetern Länge wurden in zwei senkrecht zueinander verlaufenden Schichten übereinandergelegt. Eine weitere Gruppe von Facharbeitern bedeckte dies Geflecht mit einem feuchten Leingewebe und preßte es ausgiebig mittels Holzflegeln. Dann nahte der heikle Augenblick, da die Papyrusstreifen trocknen und ohne irgendeinen Zusatz fest miteinander verkleben mußten. »Prächtig, nicht wahr?« Der gedrungene Mann, der sich an Paser wandte, hatte ein rundes Mondgesicht, schwarzes, mit einem Pflegemittel geglättetes Haar. Trotz seiner fleischigen Hände und Füße und seines vierschrötigen Körperbaus wirkte er äußerst rege, ja beinahe unruhig. »Euer Besuch ehrt mich, Richter Paser; mein Name ist Bel-ter-an. Ich bin der Eigentümer dieses Anwesens.«
Er zog seinen Schurz hoch und das feine Leinenhemd zurecht. Auch wenn er sich bei den besten Weberinnen von Memphis einkleidete, schienen seine Gewänder stets zu klein, zu groß oder zu weit zu sein. »Ich möchte Euch Papyrus abkaufen.«
»Kommt und seht Euch meine besten Sorten an.« Bel-ter-an zog Paser zu dem Lagerschuppen, in dem er seine kostbarsten Stücke, nämlich Rollen zu zwanzig Bögen, aufbewahrte. Der Hersteller zog eine davon auf.
»Seht Euch diese Pracht an, ihren feinen Schuß, ihre herrliche Farbe. Keinem meiner Mitbewerber ist es gelungen, mein Erzeugnis nachzuahmen. Eines der Geheimnisse ist die Dauer des Trocknens unter der Sonne, doch es gibt noch etliche wichtige Punkte, über diese wird mein Mund stets versiegelt bleiben.«
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