Damals seien Kriegstruppen der Tarapas sogar bis nach Caparro am Rio Ipanunari vorgedrungen, bis zu einer Siedlung, deren Bewohner friedlich Ebenholz und Orchideensamen sammelten und an die nächste Stadt weitergaben. Die Toten, die man fand, seien alle durch Giftpfeile getötet worden — sie lagen in einer seltsam verkrampften Haltung auf dem Boden, mit roten Augäpfeln und gelbem Schaum vor dem Mund. Eine Sektion im Regierungskrankenhaus ergab die Vergiftung durch ein vollkommen unbekanntes Gift, das neben Starrkrampf und Lähmung der Brustmuskeln auch eine geradezu unheimliche Strukturveränderung des Blutes herbeiführte.
«Toll!«sagte Professor Window und schob den Bericht weg.»Und in diese ungemütliche Gegend willst du ziehen?«Er sah Dr. Perthes zweifelnd an.»Laß die Finger davon, mein Knabe! Verzichte auf den Mammon und bleib bei uns. Hier kannst du sieden und kochen, spalten und abzapfen, laborieren nach Herzenslust — und kein Tarapas brennt dir einen Pfeil auf den Pelz! Die Menschheit dankt es dir doch nicht, wenn du irgendwo am Rio Chamusiqueni unter ei-ner Orchidee liegst oder als Schrumpfkopf am Gürtel des netten Häuptlings Sapolana eine zweifelhafte Unsterblichkeit erhältst!«
«Aber einer muß es doch wagen!«rief Dr. Perthes, und in seiner Stimme war eine Entschlossenheit, die man mit Worten nicht mehr entkräften konnte.»Einer muß doch den Mut haben, diese Gifte zu entdecken und ihnen entgegenzuwirken!«
«Aber dieser eine mußt nicht gerade du sein!«Auch Dr. Paul Sacher schüttelte den Kopf.»Siehst du denn nicht, Peter, daß diese Fahrt zu den Tarapas dein sicherer Tod ist? Oder glaubst du, dieser kolumbianische Forscher übertreibt in seinem Bericht! Er war dort, er hat die Erfahrung — alles, was dir noch fehlt! Ich würde bestimmt nicht fahren.«
«Du nicht, das glaube ich!«Peter Perthes ging erregt im Zimmer des Klinikchefs auf und ab.»Ihr seid Ärzte, gute Ärzte sogar, bestimmt. Aber ihr wagt nichts! Ihr habt eure Schulmedizin, eure klinische Erfahrung, und wenn ihr dreihundertsiebzigmal den Bauch aufgeschnitten habt, dann klappt es auch beim dreihundertein-undsiebzigstenmal! Ob es auch anders geht, das kümmert euch nicht. Nur wenn dann einer kommt, der es wagt, einmal etwas anderes zu machen, und wenn dieser Mann euch beweist, daß es auch so geht, dann hört ihr zu, nicht verständig, versucht es an dreißig Leichen und führt die neue Technik ein, als hätte es sie schon lange gegeben! Was würdet ihr tun, wenn dieser eine Mann nicht gekommen wäre? Wenn nie ein Mann aufgetaucht wäre, der etwas wagte? Ihr würdet heute noch wie weiland Dr. Eisenbart Rizinus verschreiben und gegen Bandwürmer mit Essig gurgeln!«Er blieb stehen.»Was würdet ihr sagen, wenn es mir gelänge, aus dem Gift der Tarapas ein Serum zu entwickeln, das — sagen wir — den Krebs heilt? Wenn es ein Mittel wäre, das die multiple Sklerose bekämpft oder die spinale Kinderlähmung aussterben läßt?«
«Das wäre einfach wunderbar!«antwortete Professor Window.
«Aha! Das wäre wunderbar! Aber bloß kein Einsatz, um dieses Wunder, wenn nötig, zu erzwingen! Es soll von selbst kommen, über Nacht. Eben ein richtiges Wunder!«Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.»Aber es gibt keine Wunder mehr, meine Herren! Es gibt nur noch Einsatz und Gewinn!«
«Warte doch, bis wir nähere Auskunft über die Gebiete haben, die du dir ausgesucht hast. Vielleicht kannst du mit einer militärischen Begleitung in den Dschungel fahren. Vielleicht sollte man zuerst mit der kolumbianischen Regierung verhandeln«, riet Dr. Sacher vorsichtig.
«Truppen! Womöglich Panzer, Flammenwerfer, Raupenschlepper und mit Flugzeugunterstützung… gegen Wilde, die mit Bambusblasrohren aus dem Hinterhalt gegen die Eindringlinge in ihr Gebiet kämpfen! Ich will zu den Tarapas als Freund, nicht als Eroberer kommen!«
«Du bist ein Phantast!«sagte Window laut.
«Alle Männer, die hinauszogen, wurden so genannt. Alle, die etwas wagten, Koch, Pasteur, Semmelweis, Pettenkofer. sie suchten Neues und waren deshalb Phantasten! Verrückte! Jetzt setzt man ihnen Denkmäler und nennt sie Retter der Menschheit!«Peter Perthes winkte ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Glaswand des großen Bücherschrankes.
Professor Window steckte beide Hände in die Tasche. Es sah aus, als wolle er die Fäuste verbergen, die er ballte.»Und du willst ohne jede Sicherungsmaßnahme gehen?«
«Ja!«
«Dann werde ich beim Auswärtigen Amt in Bonn veranlassen, deine Ausreise zu verbieten!«
«Das wirst du nicht tun!«
«Doch! Ich werde erklären, daß der Plan, mit dem du an eine wirklich große Aufgabe herangehen willst, dir den Blick für gegebene Wirklichkeiten trübt! Willst du etwa allein in die Urwälder gehen?«
Dr. Perthes antwortete nicht gleich. Es sah aus, als wolle er sagen: Was versteht ihr schon davon? Ihr wart noch nie in den Tropen, ihr diskutiert nur hier am runden Tisch. Aber ich habe schon andere Abenteuer erlebt, damals, auf Celebes. Da stand ich allein, ohne Gewehr, nur mit einer kleinen Pistole im Gürtel, im Dschungel-dickicht einem ausgewachsenen Orang-Utan gegenüber. Der riesige Menschenaffe bleckte mit den Zähnen, und seine Arme mit den Muskeln, die wie unter die Haut geschobene Brote aussahen, trommelten wütend auf der breiten Brust. Meine Träger waren davongelaufen! Sie hatten die Lasten weggeworfen und waren in den sumpfigen Wald geflüchtet. Und ich? Ich lebe noch immer, denn der Menschenaffe sah mich kleinen Menschen an, der still dastand und ihm unverwandt in die Augen blickte. Und dann redete ich, gütig, zärtlich, der Ton meiner Stimme war ganz mild. Und da wurde der Affe ruhig, trommelte nicht mehr, drehte sich plötzlich um und trottete, die Zweige unter sich zerstampfend, in den Dschungel zurück.
«Ich werde mir Träger mieten«, antwortete Perthes endlich.»Eingeborene, die die Gegend kennen. Vielleicht kommt auch noch ein kolumbianischer Arzt mit, man kann das alles hier noch nicht wissen. Es wird sich in Bogota alles ergeben.«
«Und was soll aus Angela werden? Sie ahnt doch nichts von alledem?«Das hatte Paul Sacher gefragt.
Peter Perthes schüttelte verbissen den Kopf.»Wir haben seit jenem Abend bei von Bartheys nie wieder dieses Thema berührt. Ich glaube, sie ahnt nicht einmal, wie weit die Vorbereitungen gediehen sind und daß ich in zwei Wochen startklar sein kann.«
«Du willst sie allein zurücklassen?«
«Mitnehmen kann ich sie auf keinen Fall!«
«Wenn du Angela Bender jetzt verläßt, wäre sie vollkommen kompromittiert! Sie wäre doch in der Klinik unmöglich. Hast du dir das gar nicht überlegt?«
Peter Perthes nickte, dann sagte er leise:»Ich werde Angela vor meiner Abreise heiraten.«
«Und die Hochzeitsreise machst du allein — und zwar in den sicheren Tod!«Dr. Sacher lachte schrill.»Mein lieber Peter, dafür ist mir unsere Angela zu schade! Ich habe sie immer verehrt, das weißt du, und ich bin zurückgetreten, weil ich sah, daß sie nur dich liebte. Aber jetzt werde ich mich dazwischenstellen und Angelas Rechte verteidigen!«
Auch Professor Window schüttelte den Kopf. Dann nahm er noch einmal den Bericht aus Kolumbien in die Hand.
«Wir können so viel reden, wie wir wollen, es bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß diese Expedition äußerst gefährlich ist. Sie ist mit Sicherheit gefährlicher als das Experiment Professor Piccards, in einer Kugel in die Tiefsee zu tauchen. Wir müssen dich ernsthaft fragen, Peter: Lohnt das ungewisse Ergebnis diesen ungeheuren Einsatz?«
«Wenn ich einen Erfolg habe — ja!«
«Wenn.«
«So darf man nicht denken. «Dr. Perthes entfaltete einen Papierbogen, den er aus der Tasche zog.»Hier ist mein Konzept. Von Bogota aus werde ich mich zunächst nach Zapuare begeben, von dort nach Pajarito. In dem Gebiet von Guaipu Navo sollen die ersten Fänge stattfinden, die ich in Pajarito auswerte. - Ich will also von einem festen Platz aus sternförmig in den Dschungel vorstoßen und jeweils immer wieder in das Lager zurückkehren. Die einzelnen Fangreisen lege ich auf etwa acht bis zehn Tage fest. Ich werde vor allem in einem Kanu die einzelnen Flüsse hinauffahren und an geeigneten Lagerstellen seitlich in den Urwald eindringen. Gelingt es mir, die Freundschaft der Tarapas zu erringen, habe ich vier Fünftel meines Zieles erreicht! Dann steht mir der gesamte Urwald vom Orinoko bis zum Rio Negro offen!«
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