«Vorher war sie ein Bild und eine Pantomime, jetzt ist sie schon ein Relief. Sie hat bereits Höhen und Tiefen. Sie spricht, und man versteht schon etwas. Noch nicht viel, das trägt zur Unwirklichkeit der Situation bei. Vorher war jeder Taxichauffeur eine Sphinx und jeder Zeitungsverkäufer ein Welträtsel. Auch jetzt noch ist jeder Kellner ein kleiner Einstein, aber ein Einstein, den ich bereits verstehe — wenn er nicht gerade über Physik und Ma thematik spricht. Die Verzauberung bleibt, solange man nichts will. Wenn man aber etwas will, beginnen die Schwierigkeiten, und man stürzt aus seiner philosophischen Träumerei hinab auf das Niveau eines zurückgebliebenen Zehnjährigen.«
Kahn bestellte eine doppelte Portion Eis.»Pistazien und Lime«, rief er der Kellnerin nach. Es war seine zweite Portion.»Es gibt hier zweiundsiebzig verschiedene Sorten Eis«, erklärte er schwär merisch.»Nicht in dieser kleinen Bude, sondern in den Johnson- Läden und den Drugstores. Etwa vierzig habe ich schon versucht! Das Land ist das Paradies der Eiscreme-Esser. Zum Glück bin ich ein unersättlicher Eiscreme-Narr. Dieses vernünftige Land schickt sogar seinen Soldaten, die auf irgendeinem Atoll Japaner bekämpfen, Schiffe vollgepackt mit Eiscreme und Steaks.«
Er blickte zu der Kellnerin auf, als brächte sie den heiligen Gral.»Pistazien haben wir nicht«, sagte sie.»Ich habe Ihnen Pfeffer minz und Zitrone gebracht. O.K.?«
«O.K.«
Die Kellnerin lächelte.»Wie appetitlich die Frauen hier sind«, sagte Kahn.»Appetitlich wie die zweiundsiebzig Eiscremes. Sie geben ein Drittel ihres Einkommens für Kosmetik aus. Aller dings fänden sie sonst auch keine Stellungen. Die vulgären Not wendigkeiten der Natur werden hier weitgehend ignoriert. Jugend ist alles, und wo sie nicht ist, wird sie künstlich hervorge zaubert. Das gehört ebenfalls in Ihr Kapitel der Unrealität.«
Ich hörte Kahn gelassen und entspannt zu. Das Gespräch plätscherte dahin.»Sie kennen den Apres-mich d’un Faune«, sagte Kahn.»Das hier ist ein anderer Debussy. Nachmittag eines Eis creme-Essers. Wir können gar nicht genug solcher Nachmittage haben. Sie bügeln die verdrückte Seele aus. Finden Sie nicht?«
«Ich erlebe das unter Antiquitäten. Nachmittage eines chinesischen Mandarins, kurz vor seiner Enthauptung.«
«Sie sollten lieber Nachmittage mit einem amerikanischen Mädchen verbringen. Da Sie nur halb verstehen können, gewinnen Sie ohne weitere Phantasie etwas von dem Mysterium frühester tölpelhafter Jugend zurück. Alles, was man nicht verstehen kann, ist geheimnisvoll. Die Entzauberung der Erfahrung unterbleibt, da es an Worten fehlt, und Sie haben die Möglichkeit, einen kleinen Menschheitstraum zu verwirklichen: Ein Stüde Leben noch einmal zu leben mit dem Wissen der Jahre und dem zurückgeholten Schmelzder Jugend. «Kahn lachte.»Versäumen Sie das nicht! Jeden Tag geht etwas davon dahin. Sie verstehen immer mehr, und die Faszination wird geringer. Noch sind die Frauen hier für Sie Südsee-Erscheinungen, umwittert von Fremde und Geheimnis — mit jedem neuen Wort, das Sie lernen, werden sie für Sie ein bißchen mehr Hausfrauen, Putzteufel und Konfekt. Behüten Sie Ihre zehnjährige wiedergeschenkte Jugend. Sie werden rasch altern, in einem Jahr sind Sie vierunddreißig!«
Kahn blickte auf seine Uhr und winkte der Kellnerin in der blaugestreiften Schürze.»Die letzte Portion! Vanille!«
«Wir haben auch Mandel.«
«Dann Mandel! Und etwas Himbeer!«Kahn sah mich an.»Ich verwirkliche auch einen Jugendtraum, aber einfacher als Sie — den, soviel Eiscreme essen zu können, wie ich will. Hier kann ich es zum erstenmal. Es ist für mich ein Symbol von Freiheit und Sorglosigkeit. Und das sind ja wohl Dinge, an die wir drüben nicht mehr richtig geglaubt haben. Wie man sie sich hier beschafft, ist gleichgültig.«
Ich blinzelte in das staubige Licht der motorenerfüllten Straße. Das Summen der Maschinen und das schlürfende Gleiten der Reifen gaben einen monotonen Lärm, der einschläferte.»Was möchten Sie jetzt tun?«fragte Kahn nach einer Weile.
«An nichts denken«, sagte ich.»So lange ich kann.«
Lowy senior kam zu mir herunter in den Keller unter der Straße. Er hielt eine Bronze in den Händen.»Für was halten Sie das?«»Was soll es sein?«
«Eine Chou-Bronze. Oder sogar Shang. Die Patina sieht gut aus, wie?«
«Flaben Sie das Stück gekauft?«
Lowy grinste.»Das würde ich nicht ohne Sie tun. Jemand hat es gebracht. Er wartet oben im Laden. Verlangt hundert Dollar dafür. Das heißt, er gibt es für achtzig. Scheint mir billig zu sein.«»Zu billig«, sagte ich und betrachtete die Bronze.»Ist der Mann ein Händler?«
«Sieht nicht so aus. Ein junger Mann, behauptet, das Stück geerbt zu haben und Geld zu brauchen. Ist es echt?«
«Es ist eine chinesische Bronze. Aber nicht aus der Chou-Zeit. Auch nicht Han. Eher Tang oder noch jünger. Sung oder Ming. Eine Kopie aus der Ming-Zeit nach einem alten Stück. Man hat nicht sehr sorgfältig kopiert. Die Tao-Tieh-Masken sind unge nau, die Spiralen passen auch nicht dazu, sie wurden in dieser Art erst nach Han verwendet. Das Dekor ist andererseits eine Shang-Kopie: gedrungen, einfach und stark. Doch die Vielfraß maske und das Füllornament müßten viel klarer und stärker sein, um aus derselben Zeit zu stammen. Außerdem sind hier ein paar kleinere Schnörkel, wie sie in wirklich alten Bronzen nicht Vorkommen.«
«Aber die Patina! Sie ist doch sehr schön.«
«Herr Lowy«, sagte ich.»Es ist sicher eine ziemlich alte Patina. Aber sie hat keine Malachitverkrustungen. Bedenken Sie, daß die Chinesen schon in der Han-Zeit Shang-Bronzen kopiert und ein gegraben haben — das gibt eine gute Patina, wenn sie auch nicht aus der Chou-Zeit stammt.«
«Was ist das Stück wert?«
«Zwanzig oder dreißig Dollar; aber das wissen Sie besser als ich.«
«Wollen Sie mit raufkommen?«fragte Lowy mit einem Glitzern von Jagdeifer in seinen blauen Augen.
«Muß ich?«
«Macht es Ihnen Spaß?«
«Einen kleinen Schwindler zu überführen? Wozu? Wahrscheinlich ist es gar keiner. Wer versteht schon wirklich etwas von archaischen China-Bronzen?«
Lowy schoß mir einen raschen Blick zu.»Keine Anspielungen, Herr Ross!«
Der kleine dicke Mann marschierte die Kellertreppe hinauf, O-beinig und energisch. Die Treppe bebte. Staub fiel von den Stufen. Einen Augenblick sah man nur die flatternde Hose und die Schuhe, der obere Teil des Mannes war bereits im Laden. Es wirkte, als wäre Lowy senior der hintere Teil eines künstlichen Variete-Pferdes.
Nach ein paar Minuten erschienen die Beine wieder. Auch die Bronze wurde wieder sichtbar.»Ich habe sie gekauft«, sagte Lowy.»Für zwanzig Dollar. Ming ist ja schließlich auch nicht schlecht.«
«Gar nicht«, erwiderte ich. Ich wußte, daß Lowy die Bronze nur gekauft hatte, um mir zu zeigen, daß er doch etwas verstünde. Wenn nicht von Bronzen, dann vom Geschäft. Er beobachtete mich.»Wie lange haben Sie hier noch zu tun?«fragte er.
«Insgesamt?«
«Ja.«
«Das hängt von Ihnen ab. Wollen Sie, daß ich gehe?«
«Nein, nein. Aber wir können Sie ja nicht ewig hierbehalten. Sie sind doch hier bald fertig. Was waren Sie früher?«
«Journalist.«
«Können Sie das nicht wieder machen?«
«Mit meinem Englisch?«
«Sie haben schon ganz hübsch gelernt.«
«Aber, Herr Lowy! Ich kann noch nicht einmal einen Brief ohne Fehler schreiben.«
Lowy kratzte sich mit der Bronze den kahlen Kopf. Wäre das Stück aus der Chou-Zeit gewesen, hätte er das vermutlich nicht getan.
«Verstehen Sie auch etwas von Bildern?«
«Nur wenig. Es ist wie bei den Bronzen.«
Er schmunzelte.»Immerhin besser als nichts. Ich will mich mal umsehen. Vielleicht braucht einer meiner Kollegen eine Hilfe. Das Geschäft ist zwar flau, das sehen Sie bei Antiquitäten. Aber bei Bildern ist es anders. Besonders bei Impressionisten. Alte Bilder sind im Augenblick tot. Na, wir werden mal sehen.«
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