Ich erwartete, daß der Anwalt mich hinauswerfen ließe. Stattdessen erschien plötzlich ein breites Lachen auf seinem Gesicht und machte es noch breiter.
«Nicht schlecht«, sagte er mit tieferer Stimme.»Den kannte ich noch nicht.«
«Er ist veraltet«, erwiderte ich.»Heute schießt man, statt Witze zu machen.«
Der Anwalt wurde wieder ernst.»Wir haben eine fatale Schwäche für Witze«, sagte er.»Trotzdem bleibe ich bei dem, was ich behauptet habe.«
«Und ich bleibe beim Gegenteil.«
«Können Sie das auch beweisen?«
«Besser als Sie. Die Juden haben Deutschland verlassen, weil sie mußten: Sie wären sonst verfolgt worden. Das beweist aber noch nicht, daß sie herausgegangen wären, wenn man sie nicht verfolgt hätte. Die Nichtjuden aber, die Deutschland verlassen haben, haben es getan, weil sie das Regime haßten.«
«Die Spione und Spitzel ausgenommen«, sagte der Anwalt trokken.
«Spione und Spitzel haben immer erstklassige Ausweise.«
Der Anwalt wischte das unter den Tisch.»Beweist nicht bereits die Tatsache, daß Sie glauben, nicht alle Juden wären gegen das Naziregime, eine antisemitische Gesinnung?«fragte er.
«Vielleicht. Aber unter Juden. Die Ansicht ist nämlich nicht von mir. Sie stammt von meinen jüdischen Freunden.«
Ich stand auf. Ich hatte von der albernen Wortspielerei genug. Nichts ermüdet mehr, als wenn einem jemand zeigen will, was für ein kluges Köpfchen er ist, besonders wenn er keins ist.
«Haben Sie tausend Dollar?«fragte das breite Gesicht.
«Nein«, entgegnete ich schroff.»Ich habe keine hundert.«
Er ließ mich fast bis zur Tür gehen.»Wie dachten Sie denn zu zahlen?«fragte er dann.
«Meine Bekannten wollen mir helfen. Aber ich will lieber wieder in ein Internierungslager gehen, als ihnen solche Summen zuzumuten.«
«Waren Sie schon einmal in einem?«
«Ja«, erwiderte ich ärgerlich.»Sogar in Deutschland. Und da heißen sie anders.«
Ich erwartete jetzt, daß dieser Klugscheißer mir erklären würde, in den Konzentrationslagern säßen auch Kriminelle und Verbrecher — was ja stimmte. Dann hätte ich mich nicht beherrschen können. Aber ich bekam keine Gelegenheit dazu. Hinter ihm schnarrte etwas, und eine melancholische Stimme rief: Kuckuck
— Kuckuck — zwölfmal. Es war eine Schwarzwälder Kuckucks uhr; eine Melodie, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte.
«Wie hübsch«, sagte ich sarkastisch.
«Es ist ein Geschenk meiner Frau«, erwiderte der Anwalt leicht verlegen.»Ein Flochzeitsgeschenk.«
Ich vermied es, ihn zu fragen, ob auch die Uhr antisemitisch sei. Mir schien aber, als hätte ich durch den Kuckuck einen unerwar teten Bundesgenossen bekommen. Der Anwalt erklärte plötzlich fast sanft:»Ich werde für Sie tun, was ich tun kann. Rufen Sie übermorgen vormittag hier an.«
«Und das Honorar?«
«Ich werde das mit Frau Stein besprechen.«
«Es wäre mir lieber, wenn ich es wüßte.«
«Fünfhundert Dollar«, sagte er.»In Raten, wenn Sie wollen.«»Glauben Sie, daß Sie etwas erreichen können?«
«Einen Aufschub schon. Dann muß man weiterverhandeln.«»Danke«, sagte ich.»Ich werde übermorgen anrufen.«»Kunststück«, sagte ich unwillkürlich, als ich in dem schmalen Aufzug des engbrüstigen Hauses hinunterfuhr. Eine Frau mit einem Schwalbennest auf dem Kopf und mit Wangen, von denen der Puder stäubte, wenn der Aufzug mit einem Ruck hielt, sah mich empört an. Ich starrte über sie hinweg, so desinteressiert, wie ich nur konnte. Ich hatte bereits gelernt, daß Frauen in Amerika leicht nach der Polizei rufen. Think! stand auf dem Mahagonischildchen im Aufzug über dem Kopf mit den zitternden gelben Löckchen und der reglosen Schwälbenbrut.
Aufzugskabinen machten mich immer nervös. Sie hatten keinen zweiten Ausgang, und man konnte aus ihnen schwer entweichen. Ich habe als junger Mensch die Einsamkeit geliebt. In den Jahren meiner Flucht und meiner Wanderschaft habe ich sie fürchten gelernt. Nicht nur, weil sie mich zum Nachdenken und damit rasch zur Melancholie brachte, auch weil sie gefährlich war. Wer sich immer verstecken muß, liebt die Menge. Sie macht ihn anonym. Er fällt nicht auf.
Ich betrat die Straße, und sie war wie eine Umarmung von tausend anderen anonymen Freunden. Sie war offen, voller Türen, Ausgänge, Winkel und Abzweigungen und vor allem voller Menschen, zwischen denen man verschwand.
* * *
«Wir haben uns gegen unsern Willen, aber aus Notwendigkeit, die Mentalität von Verbrechern angeeignet«, sagte ich zu Kahn, mit dem ich in einer Pizzastube zu Mittag aß.»Sie vielleicht weniger als wir anderen. Sie waren aggressiv und schlugen zurück, wir anderen aber wurden nur geprügelt. Glauben Sie, daß wir das je verlieren werden?«
«Die Angst vor der Polizei vielleicht nicht. Sie ist auch natürlich. Jeder anständige Mensch hat sie. Das liegt an den Fehlern unserer Gesellschaftsordnung. Aber sonst? Das liegt an jedem einzelnen. Wenn es irgendeinen Platz gibt, sie loszuwerden, dann ist es hier. Dieses Land ist von Emigranten gegründet worden. Und hier werden sie in jedem Jahr noch zu Tausenden eingebürgert. «Kahn lachte.»Welch ein Land! Sie brauchen hier nur zwei Fragen mit Ja zu beantworten, und jeder hält Sie für einen famosen Kerl. Lieben Sie Amerika? Ja, es ist das herrlichste Land der Welt. Wollen Sie Amerikaner werden? Ja, selbstverständlich, und man klopft Ihnen auf die Schulter und findet Sie richtig.«
Ich dachte an den Anwalt, von dem ich kam.»Kuckuck!«erwiderte ich.
«Was?«
Ich erzählte Kahn die letzte Episode meines Besuches.»Dieser hemdsärmelige Jehova-SA-Mann hat mich wie einen Aussätzigen behandelt«, erklärte ich.
Kahn war außer sich vor Vergnügen.»Kuckuck!«erwiderte er.»Aber er hat Ihnen nur fünfhundert Dollar berechnet. Das war seine Entschuldigung! Wie ist die Pizza?«
«Gut. Wie in Italien.«
«Besser als in Italien. New York ist eine italienische Stadt. Außerdem eine spanische, eine jüdische, eine ungarische, eine chinesische, eine afrikanische, eine knalldeutsche — «
«Eine deutsche?«
«Und wie! Fahren Sie mal zur Sechsundachtzigsten Straße, da wimmelt es von so vielen Heidelberger Bierkellern, Cafe Hindenburgs, Nazis, Deutschamerikanischen und Turnklubs, von Gesangvereinen mit >Heil dir im Siegerkranz< und Stammtischen mit schwarzweißroten, wohlverstanden, nicht schwarzrotgoldenen Fähnchen. «
«Keine Hakenkreuze?«
«Nicht öffentlich. Sonst sind die Ausländsdeutschen oft schlimmer als die drüben. Die Abwesenheit wirkt ein goldenes Gespinst der Sentimentalität um das geliebte ferne Heimatland, aus dem man seinerzeit weggegangen ist, weil es gar nicht so liebenswürdig war«, sagte Kahn spöttisch.»Sie müssen mal hören, wenn es da losgeht mit Patriotismus, Bierseligkeit, Rheinliedern und Führer sentimentalität.«
Ich sah ihn an.»Was ist los?«fragte Kahn.
«Nichts«, sagte ich mühsam.»Und das gibt es hier?«
«Die Amerikaner sind großzügig. Sie nehmen es nicht sehr ernst. Nicht einmal im Krieg.«
«Im Krieg«, sagte ich. Da war es wieder, was ich nicht begreifen konnte. Dies war ein Land, das von seinen Kriegen durch Ozeane und die halbe Welt getrennt wurde. Seine Grenzen rührten nirgendwo an feindliche. Es wurde nicht bombardiert. Niemand schoß.
«Kriege bestehen darin, daß man benachbarte feindliche Grenzen überschreitet«, sagte ich.»Wo sind die hier? In Japan und Deutschland. Das macht den Krieg so unwirklich. Man sieht Soldaten, aber keine Verwundete. Wahrscheinlich bleiben sie draußen. Oder gibt es keine?«
«Es gibt welche. Und Tote.«
«Trotzdem ist es unwirklich. Als wäre alles nicht wahr.«
«Es ist wahr. Und wie!«
Ich schaute auf die Straße. Kahn war meinem Blick gefolgt.»Ist es dieselbe Stadt?«fragte er.»Jetzt, wo Sie schon viel besser sprechen?«
Читать дальше