Ich blieb stehen.»Das verstehe ich. Was hat der Krieg schon damit zu tun? Wenn auch anderswo hunderttausend Menschen getötet werden — wenn man sich in den Finger schneidet,'tut es deswegen nicht weniger weh.«
Wozu rede ich solch törichtes Zeug, dachte ich. Warum lasse ich diese Flysterikerin nicht weinen, solange sie Lust hat? Warum gehe ich nicht? Aber ich blieb stehen, als wäre sie der letzte Mensch, und dann wußte ich, warum: Ich wollte nicht allein sein.
«Alles ist vergebens«, sagte sie.»Alles, alles, was wir auch tun! Wir müssen sterben, und keiner entkommt.«
Du lieber Gott! Auch das noch!» Es gibt da Unterschiede«, sagte ich.»Einer davon ist, wie lange man entkommt.«
Sie antwortete nicht.»Wollen Sie etwas trinken?«fragte ich.
«Ich kann diese Coca-Colas nicht ausstehen«, erwiderte sie.»Was sind das für Getränke!«
«Wie wäre es mit Wodka?«
Sie blickte auf.»Wodka? Wo gibt es hier Wodka, wenn Melikow nicht da ist? Wo ist er überhaupt? Warum ist er nicht da?«
«Das weiß ich nicht. Aber Wodka habe ich auf meinem Zimmer. Ich kann ihn holen.«
«Das ist ein vernünftiger Gedanke«, sagte Natascha Petrowna. Dann fügte sie hinzu, und es erinnerte mich an alle Russen, die ich in meinem Leben gekannt hatte:»Warum haben Sie diesen Gedanken nicht schon lange gehabt?«
Ich holte den Rest Wodka, den ich noch hatte, und ging wider strebend zurück. Vielleicht kommt Melikow bald, und ich kann versuchen, mit ihm so lange Schach zu spielen, bis ich ruhiger würde. Ich erwartete nicht viel von Natascha Petrowna.
Sie schien eine andere Person zu sein, als ich an ihrem Tisch stand. Die Tränen waren verschwunden, ihr Gesicht war gepudert, und sie lächelte sogar.»Wieso mögen Sie Wodka?«fragte sie.»In Ihrem Vaterland trinkt man ihn doch nicht?«
«Ich weiß«, erwiderte ich.»In Deutschland trinkt man Bier und Schnaps. Aber ich habe mein Vaterland vergessen und trinke weder Bier noch Schnaps. Ich bin aber auch kein großer Wodka trinker.«
«Was trinken Sie dann?«
Was für eine idiotische Unterhaltung, dachte ich und sagte:»Was es gerade gibt. In Frankreich habe ich Wein getrunken, wenn ich ihn bekam.«
«Frankreich«, sagte Natascha Petrowna.»Was haben die Deutschen daraus gemacht!«
«Ich war nicht dabei. Ich saß um die Zeit in einem französischen Internierungslager.«
«Natürlich! Als Feind.«
«Vorher war ich in einem deutschen Konzentrationslager. Auch als Feind.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Ich auch nicht«, antwortete ich ärgerlich. Es war ein verhexter Tag, dachte ich. Immer wieder drehte ich mich im Kreise. Dabei wollte ich nur heraus.
«Möchten Sie noch etwas Wodka?«fragte ich. Wir hatten uns wirklich nichts zu sagen.
«Danke. Lieber nicht. Ich habe schon vorher ziemlich viel getrunken.«
Ich schwieg. Ich fühlte mich hundeelend. So zwischen allem und nirgendwo hingehörig.
«Wohnen Sie hier?«fragte Natascha Petrowna.
«Ja. Vorläufig.«
«Jeder wohnt vorläufig hier. Aber manche bleiben dann für immer.«
«Das kann sein. Haben Sie auch hier gewohnt?«
«Ja. Jetzt nicht mehr. Ich wollte, ich wäre nie weggegangen. Und ich wollte, ich wäre nie hierhergekommen, nach New York.«
Ich war zu müde, um weiterzufragen. Und ich hatte schon zu viele Schicksale gehört, große und kleine, um neugierig zu sein. Jemand, der darüber jammerte, daß er nach New York gekommen war, interessierte mich nicht. Er gehörte zu einer anderen, schattenhaften Welt.
Natascha Petrowna stand auf.»Ich muß gehen.«
Es war ein Augenblick leichter Panik für mich.»Wollen Sie nicht auf Melikow warten? Er wird sehr bald kommen.«
«Das glaube ich nicht. Felix ist angekommen, der ihn vertritt. «Auch ich sah jetzt den kleinen Kahlkopf. Er stand vor der Tür und rauchte.»Danke für den Wodka«, sagte Natascha. Sie sah mich mit ihren grauen, wie durchsichtigen Augen an.»Sonderbar, wie wenig einem manchmal schon eine Hilfe sein kann«, sagte sie.»Schon ein Mensch, den man gar nicht kennt, ist genug.«
Sie nickte mir zu und ging. Sie war noch größer, als ich geglaubt hatte. Ihre Schritte hallten auf dem Holzboden laut und energisch, als wolle sie unter ihren Füßen etwas zertreten. Sie schienen gar nicht zu der biegsamen, schmalen Gestalt zu passen, die etwas schwankte.
Ich korkte die Flasche zu und trat unter die Tür zu Felix, Melikows Stellvertreter.»Wie geht es, Felix?«fragte ich.
«Wie es so geht«, erwiderte er und blickte abweisend auf die Straße hinaus.»Wie soll es sonst gehen?«
Ich spürte, als er da so friedlich vor sich hin rauchte, eine wilde Welle von Neid auf ihn. Die brennende Zigarette war plötzlich das Symbol alles Friedens der Welt.»Gute Nacht, Felix«, sagte ich.
«Gute Nacht. Wollen Sie noch was? Wasser, Zigaretten?«
«Nein, danke, Felix.«
Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Mit einem Schwall kam mir die Vergangenheit entgegen, als habe sie auf mich gewartet. Ich warf mich auf mein Bett und starrte in das graue Rechteck des Fensters. Ich war hilflos, ich sah viele Gesichter und sah manche schon nicht mehr, ich schrie lautlos nach Rache und wußte doch, daß es vergeblich war, ich wollte jemanden erwürgen und wußte nicht wen. Ich konnte nur warten, und dann merkte ich, daß meine Hände naß wurden, daß ich weinte.
Der Rechtsanwalt ließ mich eine Stunde warten. Ich nahm an, daß es die alte Taktik war, den Klienten mürbe zu machen. An mir war nichts mürbe zu machen. Ich vertrieb mir die Zeit damit, zwei Kunden im Vorzimmer zu beobachten. Einer kaute Gummi, der andere versuchte, sich mit der Sekretärin für einen Mittags kaffee zu verabreden. Die Sekretärin lachte nur über ihn. Sie hatte recht. Der Mann hatte falsche Zähne und trug einen kleinen Brillantring an einem kurzen, dicken, kleinen Finger, dessen Nagel heruntergekaut war. Gegenüber der Sekretärin hing, zwischen zwei bunten Drucken von New Yorker Straßenszenen, ein gerahmtes Schild mit dem einzigen Wort: Think! Ich hatte diese lapidare Aufforderung zu denken schon öfters bemerkt, im Korridor des Hotel Reuben sogar an einer unerwarteten Stelle: vor der Toilette. Es war das Preußischste, was ich bisher in Amerika gesehen hatte.
Der Anwalt hatte breite Schultern, ein breites flächiges Gesicht und trug eine goldene Brille. Seine Stimme war überraschend hoch, und das wußte er. So versuchte er sie tiefer zu halten, als sie war, und sprach deshalb sehr leise.
«Sie sind Emigrant?«flüsterte er und starrte auf einen Brief, den Betty an ihn geschrieben haben mußte.
«Ja«.
«Jude, natürlich.«
Er blickte auf, als ich schwieg.»Jude?«wiederholte er ungeduldig.
«Nein.«
«Was? Sie sind kein Jude?«
«Nein«, sagte ich erstaunt.»Warum?«
«Für Deutsche, die nach Amerika wollen, aber keine Juden sind, arbeite ich nicht.«
«Und warum nicht?«
«Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu erklären, Mister.«
«Sicher nicht. Aber um mir das mitzuteilen, hätte ich nicht eine Stunde lang warten müssen.«
«Frau Stein hat mir nicht geschrieben, daß Sie kein Jude sind.«»Die deutschen Juden scheinen toleranter zu sein als die amerikanischen«, sagte ich bissig.»Um Ihre Frage zurückzugeben: Sind Sie Jude?«
«Ich bin Amerikaner«, antwortete der Anwalt lauter als vorher und sofort mit höherer Stimme.»Und ich setze mich nicht für Nazis ein.«
Ich lachte.»Für Sie ist jeder Deutsche ein Nazi?«
Die Stimme wurde wieder lauter und höher.»Zumindest steckt ein Stück Nazi in jedem Deutschen.«
Ich lachte wieder.»Und ein Stück Mörder in jedem Juden.«»Was?«
Die Stimme war mit einem Ruck ins Falsett hinaufgeglitten. Ich deutete auf das Schild, das ebenso wie im Vorzimmer auch im Büro hing, hier jedoch in Gold: Think!» Oder in jedem Rad fahrer«, sagte ich.»Das ist nämlich ein alter Witz von 1919: Als behauptet wurde, die Juden seien am Kriege schuld gewesen, antwortete man damals: Und die Radfahrer. Wurde man gefragt: Warum die Radfahrer? so antwortete man: Warum die Juden? Aber das war 1919. Damals konnte man in Deutschland noch denken, wenn auch unter Schwierigkeiten.«
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