»Conn«, flüsterte Baldric ihm zu, »wohin …?«
Aber Conn schüttelte den Kopf und bedeutete ihm nur, ihm zu folgen. Sie bahnten sich einen Weg durch die dichten Reihen der Streiter, die der Predigt mit verklärtem Blick lauschten, und gelangten zu der Kapelle, die lediglich aus einer von einer brüchigen Kuppel überdachten Apsis sowie einem kleinen Vorraum bestand. Eine Tür gab es längst nicht mehr, die Bilder waren zerstört und der Altar entfernt worden. Dennoch ging etwas Ehrfurchtgebietendes von der Stätte aus, sodass sich Baldric bekreuzigte, als er die Schwelle überschritt.
»Was willst du hier?«, fragte er Conn leise, während von draußen weiter die Rede des Predigers zu hören war.
»Nur einen Augenblick.« Conn suchte die brüchigen Wände der Vorkammer nach einem Hinweis ab, nach etwas, das ihm bestätigte, dass seine Überlegungen richtig waren. Er fand jedoch nichts, und so drang er in die Apsis vor, durch deren löchriges Kuppeldach helle Sonnenstrahlen einfielen.
Plötzlich ein hohles Geräusch, Stein auf Stein.
Conn verharrte und schaute zum Boden.
Eine der von Sandstaub bedeckten Steinplatten, auf die er soeben getreten war, war lose. Conn bückte sich und wischte einen Teil des Sands mit der Hand beiseite, den Rest blies er fort. Zu seiner Verblüffung kam ein Emblem zum Vorschein, das in das Gestein geritzt worden war.
Ein Kreis, bestehend aus vier Labyrinthen, die in ihrer Mitte ein Kreuz formten!
Conn sog scharf Luft ein. Mit bebenden Händen befreite er die Fugen der Steinplatte von Sand und nahm sein Schwert zu Hilfe, um sie anzuheben. Baldric ging ihm zur Hand, und gemeinsam hoben sie den flachen Quader an, unter dem ein Hohlraum zum Vorschein kam. Darin lag ein längliches Behältnis aus Leder, das mit Wachs versiegelt war.
Conns Herzschlag pochte ihm in den Ohren. Rasch griff er nach dem Köcher und öffnete ihn, aber noch ehe er den Inhalt in der Hand hielt, wusste er, dass es das Buch von Ascalon war.
Die vollständige Schriftrolle, die Berengar an diesem Ort verborgen hatte. Sie selbst herumzutragen war dem klugen Mönch wohl zu gefährlich gewesen, und vermutlich war das Rätsel, das er Conn aufgetragen hatte, zugleich auch eine Prüfung gewesen, die seinen Scharfsinn auf die Probe hatte stellen sollen. Bestand er sie, so war er würdig, die Schriftrolle zu bekommen …
Schweigend vor Staunen starrten Conn und Baldric auf das Pergament, das im einfallenden Sonnenlicht wie Bernstein leuchtete. Dabei stellten sie fest, dass es verändert worden war und zusätzliche Notizen enthielt, die wohl von Berengar stammten. Anmerkungen in lateinischer Sprache, die sich auf einzelne Abschnitte des hebräischen Textes bezogen und Ortsbeschreibungen zu sein schienen. Conn, der des Lateinischen inzwischen leidlich mächtig war, erkannte Himmelsrichtungen und Pfadangaben.
»Was, bei allen Heiligen, ist das?«, fragte Baldric verwundert.
»Berengar. Er hat die Rätsel des Buches gelöst. Dies ist die Wegbeschreibung zu jenem Ort, an dem die Lade des Bundes verborgen ist.«
Erneut breitete sich Schweigen in der kleinen Kapelle aus, und Conn hatte das Gefühl, dass die Pergamentrolle plötzlich zentnerschwer in seinen Händen wog. Er musste an Berengar denken, an das Opfer, das er gebracht hatte, und an die lange und wechselvolle Geschichte, auf die das Buch von Ascalon blickte – und er traf eine Entscheidung.
»Vater?«, wandte er sich flüsternd an Baldric.
»Ja, Sohn?«
»Wir müssen reden.«
29.
Acre
12. Juli 1099

Die Stadt, in die Conn und Baldric zurückkehrten, war nicht mehr die, die sie vor sechs Wochen verlassen hatten.
Jenes Acre war eine wehrhafte Siedlung gewesen, auf deren Türmen und Mauern die Soldaten der örtlichen Garnison Vorbereitungen zur Verteidigung getroffen hatten. Doch zum Kampf um die Stadt war es nicht gekommen. Um der Konfrontation zu entgehen, hatte der Statthalter des Kalifen es vorgezogen, den Kreuzfahrern die Tore zu öffnen und sie mit allem Nötigen zu versorgen – und so machte die Stadt auch noch nach Wochen den Eindruck eines Ackers, über den ein Schwarm Heuschrecken hergefallen war.
Viele Läden und Tavernen waren geschlossen, auf den Märkten gab es kaum Lebensmittel zu kaufen. Die Lagerhäuser und Kornspeicher der Stadt waren leer, eine Folge des Tributs, den man an die Kreuzfahrer entrichtet hatte, und überall in den dunklen Eingängen der Häuser und unter den Schatten spendenden Baldachinen sah man dürre Gestalten mit hungrigen Augen sitzen, die mit einer Mischung aus Neugier und Feindseligkeit auf die beiden Besucher starrten. Denn obschon Conn und Baldric Turbane um die Köpfe gewickelt hatten und das weite Gewand der Orientalen über Kettenhemd und Waffengurt trugen, waren sie natürlich als franca zu erkennen.
Conn fühlte Bedrückung. Einmal mehr musste er an die Versammlung des Fürstenrats denken und an die Stimmen, die er dort gehört hatte; Stimmen, die nach Ruhm und Geltung, vor allem aber nach Besitz und Beute schrien – davon, vor Gott Vergebung zu erlangen, war keine Rede mehr, obschon es vielleicht nötiger wäre als je zuvor.
Vermutlich war dies auch der Grund, dass Baldric ihn begleitete. Als er seinem Adoptivvater von seinen Plänen erzählte, war Conn sich keineswegs sicher gewesen, dass Baldric ihn verstehen, geschweige denn ihm helfen würde. Denn was Conn im Sinn hatte, war nicht nur kühn, sondern verstieß auch gegen seine Pflichten und den Eid, den er als Kreuzfahrer geleistet hatte. Doch um Gottes Gerechtigkeit zu dienen, so war er überzeugt, gab es keine andere Möglichkeit – und zu seiner Erleichterung teilte Baldric diese Ansicht.
Sie suchten das Haus des Tuchhändlers auf und ließen nach Chaya fragen. Ein Diener führte sie in eine Kammer, die zugleich als Küche und Wohnraum diente. Zwei Männer saßen an einem Tisch, in denen Conn Caleb und – zu seiner Überraschung – Bahram erkannte, der seine orangefarbene Robe gegen ein schlichtes braunes Gewand getauscht hatte und nicht länger ein Offizier der Garnison zu sein schien. An der Feuerstelle jedoch stand Chaya, das dunkle Haar hochgesteckt und Rußflecke im Gesicht – und doch noch ungleich schöner, als er sie in Erinnerung hatte.
»Conwulf!«
Er trat auf sie zu, und sie umarmten einander. Fest presste Conn sie an sich, als könnte er so verhindern, dass sie ihm jemals wieder genommen würde.
»Was tut ihr hier?«, fragte Chaya. Ihr Blick glitt verwundert zwischen Conn und Baldric hin und her.
»Ja«, rief Caleb vom Tisch herüber, »was tut ihr hier? Solltest du dich nicht glücklich schätzen, noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein?«
Conn antwortete nicht. Das kleine Bettchen, das jenseits des Herdes in einer Nische stand, hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Behutsam trat er darauf zu und schaute hinein.
Der Knabe war merklich kräftiger geworden, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein Haar, das allmählich zu sprießen begann, war dunkel, seine Augen hingegen, die Conn mit unschuldiger Offenheit anstrahlten, leuchteten blau.
Was er beim Anblick des Kindes empfand, wusste Conn selbst nicht recht zu deuten. Liebe, Scham, Fürsorge, Traurigkeit – von allem war etwas dabei. Chaya war zu ihm getreten, und er nahm ihre Hand und drückte sie, eine Geste der Hilflosigkeit, von der er hoffte, dass sie sie recht verstand.
»Bist du deshalb gekommen?«, stichelte Caleb weiter, der offenkundig zu viel Wein getrunken hatte. »Wolltest du einen Blick auf das werfen, was du angerichtet hast? Oder wolltest du deinen Vaterpflichten nachkommen?«
»Sei still, Caleb«, wies Chaya ihn zurecht. »Conn ist dir keine Rechenschaft schuldig.«
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