»Das Ziel ist nahe«, meinte Baldric, während er das letzte Stück Brot kaute, das er in seinem Proviantsack hatte, »aber noch sind wir nicht in Jerusalem.«
»Was, denkst du, wird der Fürstenrat entscheiden?«, fragte Conn, der ihm im Zelt gegenübersaß.
»Schwer zu sagen.« Der Normanne schürzte die Lippen. »Die Noblen werden sich streiten, wie sie es immer tun. Sie werden untereinander uneins sein, wie die Herrschaft über die Stadt zu teilen ist, obschon sie sich noch nicht einmal in ihrem Besitz befindet. Irgendwann jedoch, wenn Vernunft oder Notwendigkeit sie dazu drängen, werden sie sich zum Angriff entschließen, und mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen, die Stadt zu erobern und ans Ziel unserer Mühen zu gelangen.«
Conn nickte. »Glaubst du noch immer, dass es Gottes Wille ist?«
»Was meinst du?«
»Jerusalem zu erobern. Muslime und Juden aus dem Heiligen Land zu vertreiben.«
Das eine Auge des Normannen musterte ihn prüfend. Einen Augenblick lang hegte Conn die Befürchtung, sein Adoptivvater könnte zornig werden, wie es früher oft der Fall gewesen war, wenn man den Sinn des Unternehmens in Frage gestellt hatte. Doch Baldric blieb ruhig. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Als wir England verließen, hatte ich von unseren Feinden eine klare Vorstellung, ebenso wie ich von unseren Verbündeten eine klare Vorstellung hatte. Doch die Zeit hat gezeigt, dass die Dinge oftmals nicht sind, wie sie scheinen. Kein Sarazene, sondern ein Christ ist es gewesen, der mich gefoltert hat, und eine Jüdin hat dir das Leben gerettet. Wofür also kämpfen wir? Warum suchen wir Jerusalem zu erobern, wenn Freund und Feind nicht einmal mehr zu unterscheiden sind?«
Der Blick, mit dem Conn den Normannen bedachte, war voller Erwartung. Baldric hatte genau die Gedanken geäußert, die auch ihn quälten, und er hoffte, eine schlüssige Antwort zu bekommen. »Nun?«
»Ich weiß es nicht, Junge«, entgegnete Baldric zu seiner Enttäuschung. »Alles, was ich weiß, ist, dass am Ende dieses Pilgerpfades Erlösung auf jene wartet, die ihn lauteren Herzens gegangen sind. Darauf – und nur darauf – richtet sich meine Hoff…«
Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich der Eingang des Zeltes teilte und ein Mann in einer schwarzen Robe eintrat. Conn war so überrascht, dass er aufsprang.
»Berengar!«
Der Mönch zog die Kapuze zurück und enthüllte seine blassen, elend aussehenden Gesichtszüge. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und das Haar war wie Stroh.
»Conwulf, Baldric«, – der Benediktiner nickte den beiden zu –, »bitte hört mich an.«
»Ihr wagt es, hier aufzutauchen?«, knurrte Baldric und erhob sich ebenfalls, die Hand am Schwertgriff. »Nach allem, was Ihr getan habt?«
»Ich weiß, dass ich gefehlt habe, Herr«, versicherte der Mönch in einer Demut, die ehrlich wirkte. »Doch ich bitte Euch, nicht über mich zu richten, ehe Ihr nicht die Wahrheit kennt.«
»Die Wahrheit?«, fragte Conn. »Welche Wahrheit? So oft habt Ihr gelogen, wie könnten wir Euch da noch trauen?«
»Es ist wahr, ich habe gelogen und betrogen, weil ich hoffte, Gottes Gegenwart auf Erden dadurch näher zu kommen. Aber es ist mir nicht gelungen, und nun bleibt mir kaum noch
Zeit.«
»Zeit? Wofür?«
»Um dich um Verzeihung zu bitten, Conwulf – und Euch ebenso, Baldric. Mein Verlangen nach dem Buch und dem, was es verbirgt, war so groß, dass ich bereit war, jedes Verbrechen dafür zu begehen.«
»Warum?«, wollte Conn wissen.
»Ist das nicht offensichtlich?« Der schmale Mund des Mönchs verzerrte sich zu einem dünnen Lächeln. »Die Lade ist all das, wonach sich die Menschheit von Anbeginn ihrer Existenz gesehnt hat – eine Verbindung zu Gott! Mögen andere sich für Reichtum und Macht interessieren – mir ging es stets nur darum, ihr Wesen zu ergründen und Gewissheit zu erlangen …«
»… und dafür wart Ihr bereit, die Lade an Guillaume de Rein auszuliefern«, sagte Baldric.
Berengar nickte, dabei rannen Schweißperlen an seinen Schläfen herab. »Schließlich erkannte ich jedoch, wie vermessen mein Ansinnen war, denn eine Religion, die zur Gewissheit wird, bedarf keines Glaubens mehr. Der Glaube an den Erlöser jedoch ist es, der uns von den Heiden unterscheidet. Also tat ich, was nötig war, um zu verhindern, dass Guillaume und seine Mutter in den Besitz des kostbaren Schatzes gelangten.«
»Ihr habt behauptet, die Schriftrolle wäre eine Fälschung, und Chaya und mich damit in tödliche Gefahr gebracht«, ließ Conn sich vernehmen.
»Eine andere Möglichkeit gab es nicht.«
»Aber Ihr musstet doch damit rechnen, dass Guillaume außer sich sein würde vor Zorn! Dass er Chaya und mich zur Rechenschaft ziehen, uns vielleicht sogar töten würde!«
»Auch das ist wahr.«
»Wie konntet Ihr so etwas tun? Wenn Graf Hugo und die Seinen nicht aufgetaucht wären, dann …« Conn unterbrach sich, weil ihm ein neuer Gedanke aufging. »Ihr wusstet, dass Hugo uns zu Hilfe kommen würde? Ihr habt es darauf angelegt?«
»Ich wusste, dass der Graf auf Rache für seinen ermordeten Bruder Adhémar sann und eine Gelegenheit wie diese nicht ungenutzt verstreichen lassen würde. Also erzählte ich ihm von dir und jener Nacht in London, von dem Komplott, von dem du erfahren hattest …«
»Woher wusstet Ihr davon? Ich habe es nie jemandem erzählt!«
»Du selbst hast es berichtet, in Antiochia, als du im Fieber lagst. Du hast im Traum gesprochen.«
»Und das soll ich glauben?«
»Es ist die Wahrheit«, stimmte Baldric zu.
»Du … du wusstest ebenfalls davon?« Conn schaute seinen Adoptivvater fassungslos an. »Die ganze Zeit über? Warum hast du kein Wort gesagt?«
»Weil es nichts geändert hätte. Solange es keinen Beweis dafür gab, war dein Wissen nicht nur nutzlos, sondern auch höchst gefährlich.«
»Ihr habt mir also geglaubt?«
»Nicht nur das«, sagte Berengar. »Ich ahnte schon damals, dass deine Kenntnisse irgendwann hilfreich sein würden. Denn nichts geschieht ohne Gottes Plan.«
»Ohne Gottes Plan?« Conn trat vor, packte den Mönch am Kragen seiner Kutte und riss ihn an sich heran. »Ist Euch nicht klar, was Ihr damit hättet anrichten können, Mann?«
»Doch, Conwulf – und es war die Scham, die mich hinausgetrieben hat in die Wüste und auf die Spur des Verräters. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, um Guillaume de Rein aufzuhalten.«
»Warum habt Ihr mir das nicht gesagt? Warum habt Ihr nicht mit mir geredet?«
»Hättest du mir denn zugehört nach allem, was ich dir und Chaya angetan habe?«, fragte Berengar derart entwaffnend dagegen, dass Conn nicht anders konnte, als ihn wieder loszulassen.
»Wohl nicht«, gab er zu.
»Ich habe Guillaume und seine Mutter Eleanor kennengelernt und weiß, wozu sie fähig sind. Wäre die Lade ihnen in die Hände gefallen, wäre sie nur dazu benutzt worden, ihre Macht und ihren Besitz zu vergrößern. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Also habt Ihr das Buch verschwinden lassen, nachdem Ihr es zunächst als angebliche Fälschung entlarvt hattet. Und wo befindet es sich jetzt?«
»An einem Ort verborgen, wo Eleanor es nicht zu finden vermag«, entgegnete der Mönch, wobei er immer wieder stockte und Atem schöpfen musste. »Ich bin den Weg des Verräters bis zum Ende gegangen und werde auch den Preis des Verräters bezahlen – nur dass meine Belohnung nicht dreißig Silberlinge gewesen wären, sondern der Ruhm der Eitelkeit. Und Gottes Herrlichkeit schon zu Lebzeiten zu schauen.«
»Was redet Ihr da?« Conn hob die Brauen. All dies Gerede ergab für ihn keinen Sinn.
»Ich habe meine Buße geleistet, glaub mir. Alles, wonach es mich noch verlangt, ist deine Vergebung, Conwulf, denn an dir habe ich mich mehr als an jedem anderen Menschen versündigt. Ich habe dich hintergangen und deine Freundschaft verraten, und daran trage ich schwer. Willst du mir verzeihen?«
Читать дальше