Zehn Tage lang hatten sie ausgeharrt.
Sie hatten das Grab ausgehoben und die Totenwache gehalten, hatten ihren Anführer ehrenvoll bestattet, während das Heer längst abgezogen war und sich gen Caesarea gewandt hatte, wo man das Pfingstfest verbringen wollte, ehe man nach Jerusalem weiterzog.
Nicht alle Ritter der Bruderschaft waren geblieben. Einige hatten dem angeblichen Gottesurteil Glauben geschenkt und sich abgewandt, andere sich von den Anhängern Herzog Roberts einschüchtern lassen. Etwa zwanzig junge Edle waren jedoch mit ihrem Gefolge geblieben – genug, um jene zu verfolgen und zu bestrafen, die Schuld an Eleanors Schmerz trugen. Und womöglich auch genug, um das zu Ende zu bringen, was Guillaume in ihrem Auftrag begonnen hatte.
Eleanor wusste nicht, wohin sich der verräterische Mönch verkrochen hatte, aber ihre Gier nach dem, was er ihr in Aussicht gestellt hatte, war trotz ihrer Trauer ungebrochen. Ihren Sohn hätte sie am liebsten auf dem Thron von Jerusalem gesehen, doch da er nicht mehr am Leben war, würde sich ein anderer finden müssen, der in ihrem Auftrag an die Spitze der Macht gelangte.
»Mylady, bitte verzeiht. Aber unsere Leute sind bereit zum Abmarsch. Wenn Ihr die Güte haben wollt, mir zu folgen.«
Eleanor drehte sich noch ein Stück weiter um und nickte dem Ritter mit den eigenartig blicklosen Augen wohlwollend zu.
»Gewiss, mein guter Eustace, gewiss. Unsere Arbeit hier ist getan. Jerusalem erwartet uns.«
27.
Mons gaudii
7. Juni 1099

Der Tag, auf den die Kreuzfahrer mehr als drei Jahre lang gewartet, auf den sie hingelebt und für den sie unsagbare Opfer gebracht hatten, war ein Dienstag.
Schon einige Tage zuvor war der Normanne Tankred mit einer kleinen Schar von Reitern nach Bethlehem vorgedrungen, jener Stadt, in der der Erlöser geboren worden war. Die Nachricht, dass die Kreuzfahrer jenen Stätten, die sie bislang nur vom Hörensagen gekannt und die das Ziel all ihrer Mühen gewesen waren, nun bereits so nahe waren, hatte sich wie ein Lauffeuer im Heer verbreitet. Obwohl die Pilger erschöpft waren, wollten sie keine Zeit mehr verlieren.
In einem zweitägigen Gewaltmarsch, der begleitet wurde von frohen Gesängen und den aufpeitschenden Reden der Prediger, setzten sie ihren Weg gen Südosten fort. Und schließlich – das Licht des neuen Tages war bereits aufgegangen und tauchte das Land in gleißenden Schein – erreichten sie eine Erhebung, von deren flachem Rücken aus sich ihnen ein überwältigender Anblick bot: Vor ihnen, wie eine ferne Verheißung, jedoch so nah wie noch nie zuvor, lag das Ziel all ihres Sehnens.
Jerusalem die Hohe.
Die Stadt Salomons.
Die Wiege der Christenheit.
Von einer hohen Mauer umgeben und zu beiden Seiten von den Tälern von Hinnom und Kidron begrenzt, bot die Stadt einen prächtigen Anblick. Kirchenkuppeln und Minarette erhoben sich aus einer Wirrnis steinerner Quader, zur Linken ragten die Türme der Zitadelle auf, hier und dort waren Ruinen der römischen Herrschaft zu erkennen, beeindruckend in ihrer schieren Größe. Den prächtigsten Anblick jedoch bot die riesige Kuppel, die sich im Osten der Stadt erhob, inmitten eines von Mauern umgebenen Plateaus, und deren goldenes Dach im frühen Sonnenlicht glänzte – der Felsendom! Viel hatten die Pilger von diesem Ort gehört, den die Anhänger Mohammeds gebaut hatten, um einen der heiligen Orte ihres Glaubens zu schützen. Obwohl er den Streitern Christi, die doch gekommen waren, um das Heilige Land von Heiden zu reinigen, ein Dorn im Auge hätte sein müssen, jubelten sie bei seinem Anblick.
Zum einen, weil die goldene Kuppel das Ende der langen Reise verhieß. Zum anderen, weil die begierigen Augen der Kreuzfahrer ein anderes Wahrzeichen vergeblich suchten: die Grabeskirche, die der römische Kaiser Constantinus einst über den Stätten des Todes und der Auferstehung Jesu Christi hatte errichten lassen.
Pilger, die aus dem Heiligen Land zurückgekehrt waren, hatten zwar berichtet, dass die Muselmanen die heiligste Stätte der Christenheit mutwillig zerstört und eingerissen hätten. Doch hatten die Christen der Stadt durch Vermittlung des byzantinischen Kaisers vor nunmehr fünf Jahrzehnten damit begonnen, das einstmals so prächtige Gebäude neu zu errichten. Ihre Bemühungen schienen allerdings sehr viel weniger weit fortgeschritten, als die Kreuzfahrer es sich erhofft und in ihren Vorstellungen ausgemalt hatten. Ihrer Ergriffenheit tat dies jedoch keinen Abbruch.
Die Reiter stiegen von den Pferden und bekreuzigten sich, zahllose Pilger sanken auf die Knie und priesen den Herrn dafür, dass er sie nach Monaten und Jahren der Irrfahrt, des Krieges und des Leids nun endlich heimgeführt hatte.
Auch Conn und Baldric waren aus den Sätteln gestiegen und hatten sich niedergekniet, dankten Gott in einem stillen Gebet und gedachten jener Kameraden, denen es nicht vergönnt gewesen war, den weiten Weg zu Ende zu gehen. Conn musste dabei an den wortkargen Remy denken, der ihn das Waffenhandwerk gelehrt und ihm in Antiochia treu zur Seite gestanden hatte, und an den geschwätzigen Bertrand, der ihn in mancher dunklen Stunde aufgeheitert hatte.
Es waren bewegende Augenblicke. Die Gesänge waren verstummt, nur leise gemurmelte Gebete waren hier und dort zu hören. Conn streifte Baldric, der neben ihm kniete und mit wässrigem Auge auf Jerusalem starrte, mit einem Seitenblick. Wie mochte es wohl im Herzen des Normannen aussehen, der doch stets nichts anderes gewollt hatte, als die Stätte des Leidens und der Auferstehung Jesu zu sehen und seine unsterbliche Seele damit zu läutern?
Nachdem festgestanden hatte, dass die Kreuzfahrer Acre nicht belagern und es nicht zur Konfrontation mit den Fatimiden kommen würde, hatten Conn und Baldric die Stadt verlassen, zusammen mit rund zweihundert einheimischen Christen, die ebenfalls in den Kerkern der Zitadelle festgehalten worden waren. Der Abschied von Chaya war Conn schwergefallen, und ein Teil von ihm hatte überhaupt nicht gehen wollen. Aber zum einen war ihm klar gewesen, dass in diesen unsicheren Zeiten ein Christ und eine Jüdin auch in Acre keine Zukunft haben würden, zum anderen hatte er Baldric, dem er so viel verdankte, nicht so kurz vor dem Ziel im Stich lassen wollen.
Obwohl seine Wunden ihn noch immer schmerzten und er infolge der schlechten Versorgungslage des Heeres ausgezehrt wirkte, hatte sich der Zustand von Conns Adoptivvater in den letzten Tagen deutlich gebessert, so als erfüllte ihn die Nähe der heiligen Stätten mit neuer Kraft. Und als er sich schließlich bekreuzigte und wieder erhob, da hatte Conn fast das Gefühl, wieder jenen eisernen Recken vor sich zu haben, auf den er damals in London getroffen war.
»Dies ist eine bedeutende Stunde, Conwulf«, sagte er, während er seinen Blick weiter über die Stadt Salomons schweifen ließ. Die Morgensonne beschien die eine Hälfte seines Gesichts, die andere war in Dunkelheit getaucht. »Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis sich die Geburtsstätte unseres Glaubens wieder in unserer Hand befindet.«
Südlich des Berges, von dem aus die Kreuzfahrer zum ersten Mal die Heilige Stadt erblickt hatten und dem sie den Namen mons gaudii – Berg der Freude – gegeben hatten, schlugen sie ihr Lager auf.
Kaum jemand schlief in der folgenden Nacht, zu aufregend war die Neuigkeit, zu überwältigend die Aussichten, die sich den Streitern Christi boten. Sollte dem großen Unternehmen nun, da es in sein viertes Jahr gegangen war, endlich Erfolg beschieden sein?
Überall an den Feuern und in den Zelten wurde darüber gesprochen, die Geistlichen hielten Dankgottesdienste und feierliche Gebete ab. Doch zumindest bei den älteren und erfahreneren Kriegern wich die erste Begeisterung schon bald wieder jenen kühlen Überlegungen, die jeder militärischen Operation vorauszugehen hatten. Ernüchterung kehrte ein, denn die Mauern, die Jerusalem umgürteten und von sieben Toren beherrscht wurden, waren im Lauf der Jahrhunderte immer wieder erneuert und ausgebaut worden, sodass sich die Stadt als schier uneinnehmbares Bollwerk präsentierte, dessen Eroberung abermals viele hundert Kreuzfahrer das Leben kosten würde. Zudem würde sich die schon jetzt angespannte Versorgungslage noch verschärfen, je länger die Belagerung der Stadt andauerte.
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