Chaya, die reglos dagestanden und mit den Tränen gerungen hatte, eilte zu ihm, und sie umarmten einander nicht weniger zärtlich und liebevoll, als sie es in der Nacht zuvor getan hatten.
Caleb wandte den Blick, selbst Bahram war sichtlich erschüttert. Obwohl der Hauptmann kein Wort verstand, begriff er genau, was vor sich ging, und seinen zusammengepressten Lippen war zu entnehmen, dass er Conn nur zu gern aus seiner Pflicht entlassen hätte. Aber das war nicht möglich. Ein Versprechen war gegeben worden, die Abmachung galt.
Man ließ Conn und Chaya einen Moment, um sich voneinander zu verabschieden, und ihre Lippen fanden sich in einem innigen Kuss, den Caleb bleich, aber widerspruchslos zur Kenntnis nahm. Dann traten die Wachen vor, und man trennte sie voneinander.
»Nein!«, schrie Chaya und wollte Conn hinterherlaufen, der von den beiden Kriegern hinausgeführt wurde, zurück in den Kerker, dem er erst vor wenigen Tagen entronnen war.
Plötzlich gab es draußen auf dem Gang Tumult.
Laute Rufe waren zu hören, aufgeregtes Geschrei.
»Was ist da los?«, fragte Baldric.
Bahram und Caleb wechselten einige Worte auf Aramäisch, worauf Chayas Cousin hinauseilte. Nur Augenblicke später kehrte er zurück und erstattete Bahram Bericht. Die Reaktion des Hauptmanns war zwiespältig. Erleichterung und Freude waren dabei, aber auch Sorge und Ernüchterung.
»Was ist geschehen?«, wollte Chaya von Caleb wissen.
»Ein Bote aus dem Palast ist eingetroffen«, antwortete dieser. »Der Statthalter ist mit einer Abordnung der Kreuzfahrer zusammengetroffen, und es wurde eine Einigung erzielt. Acre hat sich bereit erklärt, die Christen mit Wasser, Proviant und Futter zu versorgen, im Gegenzug verschonen sie die Stadt. Und als Zeichen des guten Willens werden alle christlichen Gefangenen freigelassen.«
Chaya begriff noch einen Augenblick früher als Conn, dass dies seine Rettung war. Sie eilte zu ihm und umarmte ihn, wobei ihr Tränen der Erleichterung über die Wangen rannen.
»Nun, Christ, wie es aussieht, ist der Herr einmal mehr auf deiner Seite«, sagte Caleb.
Gebirge von Nakura
Anfang Juni 1099
In einer Zeit, in der täglich Ruhmestaten vollbracht wurden, in der das Heer der Kreuzfahrer von Triumph zu Triumph eilte und Geschichte schrieb, war der Tod eines einzelnen Ritters, der noch dazu vor aller Augen als Verräter überführt worden war, nicht von Belang. Zynisch ging man über sein Ableben hinweg, verschwendete keinen Gedanken daran, welchen Verlust die Welt erlitten hatte.
Eleanor de Rein jedoch war in tiefer Trauer.
Verzweiflung umgab sie wie die Dunkelheit einer mondlosen Nacht, während sie an dem Grab kauerte, in das der leblose Körper ihres Sohnes gebettet worden war, blutüberströmt und kalt.
Nie wieder würde sich Guillaume erheben, nie wieder mit ihr sprechen. Und nie wieder würde sie ihn nach ihren Vorstellungen formen und ihn entsprechend handeln lassen können. Guillaume war fort, und die Leere, die er hinterlassen hatte, war so abgrundtief, dass Eleanor das Gefühl hatte, von ihr verschlungen zu werden.
Guillaume war ihr Sohn gewesen, ihr eigen Fleisch und Blut, Träger all ihrer Hoffnungen – und nun? Sie war dabei gewesen, hatte dem Kampf aus sicherer Entfernung beigewohnt und war überzeugt gewesen, dass ihr Sohn das Duell auf Leben und Tod für sich entscheiden würde, dass dies die Stunde wäre, in der Guillaume sich vor aller Welt bewährte – aber dann war alles ganz anders gekommen.
In dem Augenblick, als das Schwert des Angelsachsen Conwulf die Brust Guillaumes durchstieß, hatte Eleonor ihre Wut und ihre Enttäuschung laut hinausgeschrien, hatte sich lauthals empört über den Akt der Barbarei, in dem andere ein Urteil des höchsten Richters sehen mochten – für Eleanor stand fest, dass es Mord gewesen war, der sie und ihren Sohn um den verdienten Lohn ihrer Mühen gebracht hatte.
Guillaume war das Opfer eines Komplotts geworden, das einige Fürsten – unter ihnen der verschlagene Herzog Robert und der rachsüchtige Graf von Monteil – geschmiedet hatten. Ihr Ziel war es gewesen, die Bruderschaft der Suchenden zu zerschlagen, indem sie ihr Haupt vernichteten, und dabei hatten sie sich des Angelsachsen bedient, der sich wie eine Schlange angeschlichen und sogar das Vertrauen des Barons gewonnen hatte.
Wie sehr wünschte sich Eleanor, der einfältige Renald hätte Conwulf an jenem Tag vor Antiochia tatsächlich das Auge ausgestochen, dann wäre der Kampf – so es überhaupt dazu gekommen wäre – sicher anders ausgegangen. Oder war auch dies schon ein Teil des Komplotts gewesen? Hatte Renald schon damals beabsichtigt, Guillaume durch den Angelsachsen töten zu lassen?
Alles schien Eleanor in ihrer Verzweiflung möglich, und je länger sie am Grab ihres Sohnes Wache hielt, desto mehr wurde ihre Trauer zu Hass. Ihre Tränen waren längst versiegt – das Verlangen nach Vergeltung jedoch brannte mit jedem Tag heißer in ihrer Brust, ein alles verzehrendes Feuer.
Nur mit Mühe hatte sie Robert, den sie von Kindesbeinen an kannte, weil er gelegentlich auf dem Sitz ihrer Familie bei Falaise zu Besuch gewesen war, davon abbringen können, den Leichnam ihres Sohnes wie angedroht zu verbrennen und seine Asche zu zerstreuen. Schon der Gedanke, seinen Körper in fremde Erde gebettet zu wissen, weit entfernt von der normannischen Heimat, die er so geliebt hatte, ließ sie tiefe Verzweiflung fühlen, doch fand sie Trost in der Tatsache, dass sein Körper unversehrt geblieben war.
Noch immer sah sie ihn vor sich, die Haut weiß wie Schnee und das blonde Haar von einem goldenen Reif gehalten, den sie ihm mit ins Grab gegeben hatte. Eleanor hatte nie einen Zweifel gehegt, dass ihr Sohn zum Herrscher berufen war, entsprechend hatte sie ihn einem König gleich beisetzen lassen und ihm all die Ehren erwiesen, die der Fürstenrat und die Geistlichkeit ihm verweigert hatten.
Arnulf von Rohes hatte sie deshalb eine Hexe genannt, und sie wusste, dass es nicht wenige gab, die an ihrem Verstand zweifelten und glaubten, dass der Verlust ihres Gatten und ihres Sohnes innerhalb so kurzer Zeit zu viel gewesen wäre.
Was wussten diese Narren schon?
Was von den Sorgen einer Mutter?
Was von den Qualen, die sie litt?
Was von den Schmerzen, unter denen sie Guillaume in die Welt geboren hatte? Von den Opfern, die sie auf sich genommen hatte, damit er auch in der unwirtlichen Fremde Northumbrias die Erziehung erhielt, die eines zukünftigen Herrschers würdig war? Von den Demütigungen, die sie erduldet hatte, um Renald de Rein im Glauben zu lassen, dass er in Wahrheit der Überlegene wäre? Von dem Blut, das an ihren Händen klebte, weil sie stets nur das Beste für Guillaume gewollt hatte?
Mit Unbehagen hatte sie gesehen, wie sich der Junge seinem wirklichen Vater zuneigte; Osbert war seinem älteren Bruder Renald in vieler Hinsicht überlegen gewesen, doch seine rechtschaffene Art und seine verabscheuungswürdige Vorliebe für die einfachen Dinge des Lebens hatten Guillaume mehr geschadet als genutzt. Zudem war Eleanor sich bewusst gewesen, dass sie eines Tages etwas benötigen würde, mit dem sie Renald in ihrem Sinne lenken konnte. Also hatte sie an jenem Tag, als Osbert in der Schlucht jagte, das Seil durchschnitten und versteckt, um Jahre später Renald der Tat zu bezichtigen.
Doch all dies, all ihre Erwägungen, ihre Überlegungen, ihre sorgsam bedachten Pläne, waren gegenstandslos geworden.
Guillaume war tot. Abgeschlachtet von einem angelsächsischen Barbaren – der dafür bitter bezahlen würde.
»Mylady?«
Eustaces sanfte Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Sie fand sich im Staub kniend, am Fuße des Grabhügels, den sie hatte aufschütten und mit einem Felsblock versehen lassen. Guillaumes Name und Herkunft waren darauf verzeichnet und würden dafür Sorge tragen, dass man das Andenken an ihn auch noch in tausend Jahren wahrte … Eleanor wandte das ins Gebende gehüllte Haupt. Die Männer waren bereit zum Aufbruch.
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