Der Turm der zwei Schwestern war auf Firuz’ Rat hin ausgewählt worden. Zum einen, weil er hier selbst Dienst tat und es für ihn als Kommandanten nicht weiter schwierig war, dafür zu sorgen, dass die benachbarten Türme und Wehrgänge in dieser Nacht nur spärlich besetzt waren. Zum anderen, weil der Turm im ohnehin weniger bewachten Süden der Stadt lag und die Distanz zur Zitadelle weit geringer war, als wenn man von Westen angriff. Alles war genau bedacht und vorbereitet worden. Man hatte Nachrichten ausgetauscht und Absprachen getroffen und war übereingekommen, dass diese Nacht am besten geeignet wäre, um das Vorhaben durchzuführen.
Firuz war allein auf dem Turm.
Die Wachen hatte er unter verschiedenen Vorwänden weggeschickt, die Fackeln gelöscht. Prüfend schaute er hinauf zum sternenübersäten Himmel, an dem eine bleiche Mondsichel hing.
Noch eine Stunde bis Tagesanbruch.
Es war so weit.
Firuz bückte sich und hob das Seil vom Boden auf. Das eine Ende schlang er um eine der alten Mauerzinnen, die seit den Tagen des Römers Iustinian über die Stadt wachten. Den Rest warf er nach draußen in die Dunkelheit und wartete.
Wartete.
Bis ein Ruck am Seil ihm zu verstehen gab, dass alles plangemäß verlaufen war. Firuz sog die laue Nachtluft tief in seine Lungen und genoss diesen letzten Augenblick der Stille. Dann fasste er das Seil und zog daran. Nicht ahnend, dass er damit den Lauf der Geschichte ändern würde.
Der Zeitpunkt war gekommen.
Jener Tag, auf den die Kreuzfahrer so lange gewartet und für den sie so aufopfernd gekämpft hatten, war endlich angebrochen. Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft schienen einander in diesem Augenblick zu begegnen.
Sechzig freiwillige Kämpfer unter dem Kommando Bohemunds von Tarent hatten die Stadt in einem weiten Bogen umgangen und sich von Südwesten her an die Mauer herangearbeitet. Ihre Pferde hatten sie zurückgelassen und trotz der Dunkelheit den steilen Aufstieg durch die Schlucht des Wadi Zuiba gewagt. Auf diese Weise waren sie unbemerkt an die Stadt herangelangt und warteten nun am Fuß der mächtigen Mauern.
Im Wesentlichen waren es Männer Bohemunds, die dem Stoßtrupp angehörten, aber auch andere Kämpen waren dabei, Freiwillige aus den übrigen Heeresteilen, die sich im Kampf bewährt hatten und die Bohemund persönlich ausgewählt hatte.
Unter ihnen befanden sich auch Conn und Remy.
Die Belagerung Antiochias hatte angedauert. Im Februar hatte sich eine große Streitmacht der Seldschuken bei Harenc gesammelt, die in einer Feldschlacht nahe des Antiochiasees besiegt worden war. Im Monat darauf war eine Flotte englischer Schiffe im Hafen von Sankt Symeon angelangt, die Baumaterial für Belagerungsgeräte und einigen Proviant gebracht hatte, die Not der Kreuzfahrer jedoch nicht hatte beenden können. Im Lager wurde weiter gehungert und gedarbt, und es gab Gerüchte, dass eine Gruppe frevlerischer Geheimbündler sogar Menschenfleisch aß, um bei Kräften zu bleiben. Die Anzahl derjenigen Ritter, die dem Mangel zum Opfer fielen, die bei den andauernden Überfällen der Seldschuken getötet wurden oder das Lager verließen, um die Heimreise anzutreten, ging in die hunderte. Zuletzt war selbst der byzantinische Feldherr Tatikios, dem rund zweitausend Kämpfer unterstanden, unter fadenscheinigen Vorwänden abgezogen. Und als ob all dies noch nicht genügt hätte, war auch noch Kunde von einem großen muslimischen Heer ins Lager der Kreuzfahrer gedrungen, das sich Antiochia näherte und unter dem Kommando Kur-Baghas stand, dem mächtigen Atabeg von Mossul.
Der Feldzug im Zeichen des Kreuzes stand damit kurz vor dem Scheitern, weshalb der Fürstenrat eine letzte große Anstrengung beschlossen hatte, um Antiochia einzunehmen. Nun musste Verrat bewerkstelligen, wozu die Tapferkeit und das Geschick der Männer bislang nicht ausgereicht hatten, und es war einmal mehr der Normanne Bohemund, dem dabei eine Schlüsselrolle zukam.
Keiner der Männer wusste, was sie oben auf dem Turm erwartete. Würde der Türke, den Bohemund bestochen hatte, Wort halten? Würde es gelingen, die Stadt, die bislang jedem Ansturm und allem Beschuss getrotzt hatte, im Handstreich zu nehmen?
Die Anspannung stieg.
Conns spürte, wie sich sein Pulsschlag steigerte. Den Schild trug er auf dem wieder verheilten Rücken, das Schwert ruhte noch in der Scheide, damit er die Hände frei hatte zum Klettern. Nicht nur er und Remy, auch Baldric und Bertrand hatten sich freiwillig für den Einsatz an vorderster Front gemeldet, wenn auch jeweils aus anderen Gründen. Während es Baldric darum ging, die Schuld abzutragen, die er auf sich geladen hatte, waren Bertrand und Remy vor allem auf Beute aus; und Conn gehörte dem Trupp nur deshalb an, weil sich der Turm der zwei Schwestern weit im Süden befand und damit in der Nähe des jüdischen Viertels. Denn bei allem, was andere Kämpfer im Sinn haben mochten, musste Conn vor allem an Chaya denken. Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, was geschehen würde, wenn die Kreuzfahrer über die Stadt herfielen. Chaya zu finden und an einen sicheren Ort zu bringen war das einzige Ziel, das er in dieser Nacht verfolgte.
Während Bohemund Baldric als zu alt abgelehnt und den guten Bertrand wohl als ein wenig zu geschwätzig empfunden hatte, war er nur zu gern bereit gewesen, den hünenhaften Remy in seine Reihen aufzunehmen. Conn war wohl nur dabei, weil sein heldenhafter Einsatz in der Schlacht vor Dorylaeum im Lager die Runde gemacht hatte – während seine Verfehlung bei Al-Bira offenbar nicht bis an Bohemunds Ohr gedrungen war. Während Baldric und Bertrand nun also bei den regulären Truppen kämpften, die unter der Führung Godefroys de Bouillon, Raymonds de Toulouse und Herzog Roberts die Einfalltore bestürmen würden, würden Conn und Remy zur ersten Welle gehören, die den Turm bestieg, gemeinsam mit Herrn Bohemund, der es sich nicht nehmen ließ, den Angriff persönlich anzuführen.
Dicht gedrängt standen die Männer am Fuß der Mauer, an der das aus Rindsleder gefertigte Klettergeflecht emporgezogen wurde. Conn merkte, wie seine Handflächen zu schwitzen begannen, sein Mund wurde trocken. Er sandte Remy, der neben ihm stand, einen nervösen Blick. Der Normanne hatte die Halsschürze seines Kettenhemds hochgeschlagen, sodass nur seine grauen Augen zu sehen waren, aber die strahlten erstaunliche Ruhe aus, die Gelassenheit des erfahrenen Kämpfers.
Ein Geistlicher aus Boulogne, der den Trupp ebenfalls begleitete, sprach ein flüsterndes Gebet und einen Segen, woraufhin sich die Männer bekreuzigten. Dann war alles gesagt und getan, und man wartete, wie es schien, eine Ewigkeit lang.
Plötzlich der Schrei eines Falken.
Das Zeichen zum Angriff!
Ein Ruck ging durch die Reihen der Männer, und sie schickten sich an, das aus dicken Ledersträngen gewundene Geflecht hinaufzusteigen, an der senkrecht aufragenden Mauer empor. Bohemund, ein wahrer Riese von einem Mann, der selbst seine größten Ritter noch um einen halben Kopf überragte, war einer der Ersten, die die Leiter erklommen, dicht gefolgt von seinen Edlen, Conn und Remy hinterdrein.
An der behelfsmäßigen Leiter emporzusteigen erwies sich als gefährliches Unterfangen. Nicht nur, dass das knarrende Gebilde beständig schwankte und es einiges Geschick verlangte, nicht abzurutschen; das dunkle Leder war in der Dunkelheit auch kaum vom Mauerwerk zu unterscheiden, sodass man aufpassen musste, nicht danebenzugreifen.
Stück für Stück ging es hinauf, während sich unten bereits die nächsten Angreifer vorbereiteten. Conn vermied es, nach unten zu sehen, und nahm Sprosse für Sprosse – bis er endlich die Zinnen erreichte. Eine helfende Hand reckte sich ihm entgegen und zog ihn über die Brüstung, dann stand er auf dem Turm, mit zitternden Knien, aber froh, den Aufstieg unbeschadet überstanden zu haben. Er konnte sehen, wie sich Bohemund flüsternd mit einem Mann unterhielt, der orientalische Kleidung und einen von einem Turban umkränzten Helm trug – fraglos der Turmwächter, der seine eigenen Leute verraten und den Kreuzfahrern den Zugang zur Stadt ermöglicht hatte. Ein Dolch wurde gezückt, einen Lidschlag später sank der Türke mit durchschnittener Kehle nieder.
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