Conn, Remy und die anderen acht Kämpfer, die zusammen mit ihnen auf den Turm gestiegen waren, hatten die Zwischenzeit genutzt, um sich kampfbereit zu machen. Die Schilde an den Armen und mit gezückten Schwertern stiegen sie die schmale Wendeltreppe hinab, die zum Wehrgang führte. Von dort ging es zum nächsten Turm.
Kaum hatten die Kreuzfahrer den schmalen Weg erreicht, der sich an den Zinnen entlang nach Osten zog, war vom Turm der zwei Schwestern entsetztes Geschrei zu hören. Ein Blick über die Brüstung verriet, dass die Turmzinnen unter dem Gewicht der Leiter nachgegeben hatten und das Geflecht in die Tiefe gestürzt war, mitsamt den Männern, die sich darauf befunden hatten.
In der Dunkelheit konnte Conn nicht erkennen, was aus den armen Kerlen geworden war, aber er bezweifelte, dass sie den Sturz überlebt hatten. Die übrigen Kämpfer jedoch ließen sich nicht einschüchtern. In Windeseile wurde die Leiter erneut emporgezogen, diesmal an der niedrigeren Mauer, und schon kurz darauf langte die nächste Welle von Eindringlingen auf dem Wehrgang an.
Die zuvor bereits eingeteilten Gruppen rotteten sich zusammen; Conn und Remy unterstanden dem Kommando eines italischen Normannen namens Odo, der zum Kreis von Bohemunds Vertrauten gehörte.
Im Gänsemarsch ging es den schmalen Wehrgang hinab, zu dessen rechter Seite sich das steinerne Meer Antiochias erstreckte, ein unüberschaubares Gewirr aus Kuppeln, Türmen und Häusern, über deren Dächern sich Stoffbahnen spannten, die das Mondlicht hell zurückwarfen. Die jüdische Siedlung der Stadt, so hatte Berengar Conn erklärt, befand sich nördlich des Tores von Sankt Georg. Mit jedem Schritt, den sie dem Mauerverlauf folgten, gelangte Conn also ein wenig näher an Chaya heran. Seine Sorge um sie wuchs, und sein Entschluss, sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von seiner Gruppe zu lösen und nach ihr zu suchen, verfestigte sich.
Als die Männer den nächsten Turm erreichten, gab es eine Überraschung: Offenbar alarmiert durch das Geschrei der in die Tiefe gestürzten Kämpfer, trat ein türkischer Wächter aus dem Durchgang, um nach dem Rechten zu sehen. Odo reagierte ohne Zögern. Sein Schwert hieb dem Wächter das Haupt von den Schultern, der kopflose Torso wurde über die Zinnen nach draußen befördert.
Man passierte den Turm, auf dem einige Kämpfer als Besatzung zurückgelassen wurden, und schlich weiter. Wie sich zeigte, hatte zumindest der seldschukische Verräter seinen Teil der Abmachung erfüllt, denn die Türme und Wehrgänge seines Abschnitts waren nur spärlich besetzt. Die Kreuzfahrer hatten leichtes Spiel mit den wenigen Posten, und in kürzester Zeit befanden sich nicht weniger als zehn Türme und die dazwischenliegenden Mauern in ihrem Besitz.
Der Herrn Odo zugewiesene Abschnitt beinhaltete einen Mauereinlass, der durch eisenbeschlagene Torflügel gesichert, jedoch unbewacht war. Remy und einen weiteren Kämpfer ließ der Normanne auf der Mauer zurück, mit den vier restlichen, unter ihnen auch Conn, stieg er die schmalen Stufen hinab. Die Männer huschten zum Tor und lösten den Riegel. Knarrend schwangen die schweren Flügel auf, und indem Remy auf der Mauer eine Fackel schwenkte, gab er das verabredete Zeichen.
Eine Abteilung von rund zweihundert Rittern, die sich außerhalb der Stadt verborgen gehalten hatten, drängte nun heran und gelangte ungehindert herein. Und endlich – im Osten dämmerte bereits der neue Tag herauf – wurde laut das Signal zum Angriff gegeben.
Hörnerklang erscholl von den besetzten Türmen und riss die Bewohner der Stadt aus dem Schlaf, während gleichzeitig die Heeresmassen der Kreuzfahrer unter dem Kommando Herzog Godefroys und der anderen Fürsten zur Attacke auf die Mauern und Tore im Süden der Stadt ansetzten. Die unheilvolle Ruhe, die eben noch über Antiochia gelegen hatte, ging in Kampfgebrüll und entsetzten Alarmrufen unter. Der Kampf um die Stadt begann.
Die eingefallenen Ritter verloren keine Zeit. Die Wächter auf dem Südwall wurden ohne Erbarmen niedergemacht, Truppen, die zum Entsatz heraneilten, lieferte man in den Straßen und Gassen erbitterte Scharmützel. Ihre mächtigste Waffe, nämlich ihre Bogenschützen, konnten die Verteidiger nicht mehr zum Einsatz bringen, nun, da der Feind bereits innerhalb der Mauern weilte. Und so war es ein ungleicher Kampf, denn im Duell Mann gegen Mann waren die gepanzerten Kreuzfahrer den oftmals nur leicht bewaffneten und zudem schlechter ausgebildeten Soldaten der Bürgerwehr weit überlegen. Dazu kam, dass die Christen in der Stadt, die sich in den letzten Monaten in ihren Häusern verschanzt hatten, nun im wahrsten Wortsinn Morgenluft witterten. Mit Knüppeln und Schwertern bewaffnet, fielen sie über ihre muslimischen Nachbarn her, mit denen sie ehedem in Frieden gelebt hatten, und arbeiteten so den Angreifern zu.
Ein Mauerabschnitt nach dem anderen fiel.
Breschen wurden ins Mauerwerk geschlagen, durch die schließlich auch schwer gepanzerte Reiter in die Stadt eindrangen, die das Schicksal der Verteidiger endgültig besiegelten. Tod und Verderben ereilten jeden, der sich den Eindringlingen in den Weg stellte, die rasch nach Nordosten vordrangen. Ihr Ziel war die Zitadelle, deren türkische Besatzer wiederum einen Ausfall nach dem anderen unternahmen, um die Angreifer aufzuhalten.
Die Lage wurde unübersichtlich. Allenthalben waren Waffengeklirr und kreischendes Geschrei zu hören, hier und dort loderten Flammen auf, wenn Kreuzfahrer plündernd in die Häuser reicher Muselmanen einfielen. Und inmitten des Durcheinanders, das in den schmalen Gassen herrschte, fochten Conn und Remy Seite an Seite.
Von ihrer Gruppe waren sie getrennt worden, als die Horde der Angreifer das Nebentor gestürmt hatte. Während Herr Odo sich an ihre Spitze gesetzt und sie zum Sturm auf das nächste Tor geführt hatte, um weiteren Einheiten den Zugang zu ermöglichen, waren Conn und Remy zurückgeblieben, um gegen eine Schar von Garnisonssoldaten zu kämpfen, die rasch herbeigeeilt waren.
Inzwischen war kaum noch einer von ihnen am Leben. Die leblosen Körper unzähliger Erschlagener säumten die Straße, und die wenigen Seldschuken, die noch verblieben waren, leisteten nur halbherzigen Widerstand. Gegen einen führte Remy sein Schwert mit derartiger Wucht, dass es nicht nur den Schild des Kriegers spaltete, sondern auch noch tief in dessen Schulter fuhr. Mit einem Aufschrei ging der Mann nieder, worauf ein Ritter Bohemunds zur Stelle war und den am Boden Kauernden enthauptete. Conn wandte sich ab und spuckte aus. Einen Gegner zu bekämpfen war eine Sache – ihn abzuschlachten eine andere. Die unbändige Wut, die sich infolge der monatelangen Belagerung, der unzähligen Rückschläge und der grassierenden Hungersnot bei den Kreuzfahrern breitgemacht hatte, war dabei, sich blutig zu entladen.
Voller Sorge musste Conn an Chaya denken, und als die letzten Seldschuken die Flucht ergriffen, rief er Remy einen kurzen Abschied zu und wollte los. Der Hüne hielt ihn jedoch zurück.
»Wohin?«, fragte er nur, wortkarg, wie es seine Art war.
»Zu Chaya. Sie braucht Schutz.«
Die stahlgrauen Augen des Normannen schauten ihn prüfend an. Conn hatte seinen Freunden erzählt, was sich auf dem Weg nach Antiochia zugetragen hatte, auch, dass die Jüdin ein Kind von ihm erwartete. Baldric war davon nicht begeistert gewesen, hatte jedoch darauf verzichtet, Conn zu tadeln – wohl weil er inzwischen um die Vergangenheit seines Ziehsohns wusste. Allerdings hatte er Conn davon abgeraten, im Chaos der Eroberung nach Chaya zu suchen, da man dabei allzu leicht zwischen die Fronten geraten konnte. Wie Remy darüber dachte, wusste Conn nicht – bis der schweigsame Normanne nickte und ihm bedeutete, vorauszugehen.
Conn widersprach nicht. Zwar behagte es ihm nicht, dass Remy seine Haut für etwas riskierte, das ihn nichts anging, aber er wusste auch, dass es nicht in seiner Macht lag, dem Hünen etwas vorzuschreiben. Im Laufschritt eilten sie durch die Südstadt, so rasch ihre Rüstungen es zuließen. An einer Straßenkreuzung trafen sie auf Kämpfer der Bürgerwehr. Einen von ihnen streckte Conn nieder, indem er ihm eine tiefe Schnittwunde beibrachte, die übrigen ergriffen die Flucht.
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