Bierens de Haan wirkte erschüttert, sagte aber nichts.
Alfred stolzierte im Raum herum. »Und, Herr Vorsitzender, wo ist Einsteins Gedicht, das früher genau hier hing?« Alfred tippte mit der Pistole auf eine Stelle an der Wand.
Inzwischen war Bierens de Haan anscheinend vollkommen durcheinander. Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich weiß überhaupt nichts davon. Ich habe noch nie im Leben dort ein Gedicht hängen sehen.«
»Wie lange sind Sie schon für das hier zuständig?«
»Fünfzehn Jahre.«
»Dieser Wärter, dieser fette, zerlumpte Schandfleck, der hier Anfang der zwanziger Jahre gearbeitet hat und der so tat, als gehörte ihm hier alles. Wo ist er?«
»Vermutlich meinen Sie Abraham. Er ist schon lange tot.«
»Glück für ihn. Wie schade. Ich hätte ihn so gern wiedergesehen. Haben Sie Familie, Herr Spinoza-Haus-Vorsitzender?«
Ein Nicken von Bierens de Haan.
»Sie haben die Wahl: Entweder führen Sie uns zu den Büchern, und wir lassen Sie augenblicklich zu Ihrer Familie und in Ihre warme Küche gehen, oder Sie sagen es uns nicht, dann wird es sehr lange dauern, bis Sie sie wiedersehen werden. Wir finden die Bücher, das garantiere ich Ihnen, und wenn wir dieses Museum in alle seine Einzelteile zerlegen, bis nur noch ein Haufen Holz und Schutt übrig ist. Und damit werden wir jetzt sofort anfangen.«
Keine Antwort von Bierens de Haan.
»Und anschließend machen wir das Gleiche mit dem Haus nebenan. Und dann kommt Ihr Haus dran. Wir finden die Bücher – das garantiere ich Ihnen.«
Bierens de Haan dachte einen Augenblick nach, fuhr dann unerwartet auf dem Absatz zu Egmond herum und sagte: »Führen Sie sie zu den Büchern.«
»Und ich verlange auch das Gedicht«, setzte Alfred hinzu.
»Es gibt kein Gedicht«, blaffte Bierens de Haan zurück.
Der Wärter führte sie nebenan zu einem verborgenen Schrank in der Vorratskammer, wo die restlichen Bücher nicht besonders sorgfältig unter einer Plane gestapelt und mit Geschirr und Konserven zugestellt waren. Die Soldaten verpackten die Bibliothek und alle anderen Wertgegenstände – Bilder von Spinoza, ein Landschaftsbild aus dem siebzehnten Jahrhundert, eine Bronzebüste von Spinoza, ein kleines Lesepult – professionell in Holzkisten und trugen sie zu ihrem Laster. Zwei Stunden später waren die Plünderer und ihre Schätze schon auf dem Weg nach Amsterdam. »Ich habe an vielen solchen Operationen teilgenommen, Reichsleiter Rosenberg«, sagte Schimmer auf der Rückfahrt, »aber noch nie an einer, die so professionell durchgeführt wurde. Es war ein Privileg, Sie in Aktion zu sehen. Woher wussten Sie, dass die Bücher fehlten?«
»Ich weiß eine ganze Menge über diese Bibliothek. Sie wird für die Hohe Schule von unschätzbarem Wert sein. Sie wird uns dabei helfen, das Spinoza-Problem zu lösen.«
»Das Spinoza-Problem?«
»Zu kompliziert, um es Ihnen jetzt im Einzelnen zu erklären. Sagen wir einfach, es handelt sich um einen grandiosen jüdischen Schwindel auf dem Gebiet der Philosophie, der schon seit vielen Jahrhunderten herumgeistert. Ich beabsichtige, mich persönlich darum zu kümmern. Liefern Sie die Bücher direkt an das ERR-Büro in Berlin.«
»Und mich hat beeindruckt, wie Sie mit dem alten Mann umgesprungen sind. Kaltblütig. Professionell. Er ist sofort eingebrochen.«
Alfred tippte sich auf die Stirn. »Zeige deine Stärke. Zeige dein überlegenes Wissen und deine Entschlossenheit. Sie halten sich für besonders schlau, zittern aber bei dem Gedanken, dass ihr Haus in Schutt und Asche gelegt wird. Sobald ich davon sprach, dass es vielleicht keine warme Küche mehr gibt, war das Spiel vorbei. Genau deswegen werden wir in ganz Europa vorherrschen.«
»Und was ist mit dem Gedicht?«
»Das war unendlich weniger wert als die Bücher. Es war klar, dass er die Wahrheit sagte: Niemand, der diese unschätzbar wertvolle Bibliothek aufgibt, würde sich für ein paar hingeworfene Zeilen eines holperigen Gedichts auf einem Blatt Papier in Gefahr bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörte es gar nicht dem Museum und wurde von einem Wärter aufgehängt.«
Die beiden Holländer saßen niedergeschlagen in der Küche des Wärters. Bierens de Haan stützte den Kopf in die Hände und stöhnte: »Wir haben das, was uns anvertraut war, verraten. Wir waren die Hüter der Bücher.«
»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte Egmond. »Zuerst hätten sie das Museum auseinandergenommen und dann dieses Haus. Dann hätten sie nicht nur die Bücher, sondern auch sie gefunden.«
Bieren de Haan stöhnte immer noch.
»Was hätte Spinoza gemacht?«, fragte der Wärter.
»Ich kann mir nur vorstellen, dass er den Weg der Tugend gewählt hätte. Wenn es eine Wahl zwischen der Rettung wertvoller Gegenstände und der Rettung eines Menschen gibt, dann müssen wir die Menschen retten.«
»Ja, Sie haben Recht. Nun, sie sind fort. Soll ich ihr sagen, dass jetzt alles vorüber ist?«
Bierens de Haan nickte. Egmond ging nach oben und klopfte im Schlafzimmer mit einer langen Stange drei Mal an eine Stelle der Zimmerdecke. Ein paar Minuten später öffnete sich die Falltür, eine Leiter fiel herab, und eine verängstigte jüdische Frau mittleren Alters, Selma de Vries-Cohen, stieg herunter.
»Selma«, sagte Egmond, »Sie können aufatmen. Sie sind weg. Sie haben alles an Wert mitgenommen und werden sich jetzt daran machen, den Rest unseres Landes auszuplündern.«
»Warum waren sie hier? Was wollten sie?«, fragte Selma.
»Wegen Spinozas Bibliothek. Ich habe keine Ahnung, warum sie ihnen so wichtig war. Es ist mir vollkommen schleierhaft. Sie hätten sich ohne Schwierigkeiten einen der Dutzende Rembrandts im Rijksmuseum in Amsterdam unter den Nagel reißen können, der weitaus mehr wert gewesen wäre als alle diese Bücher zusammen. Aber ich habe etwas für Sie. Ein Buch haben sie übersehen. Es gab ein einziges Buch von Spinoza in holländischer Übersetzung. Es heißt Ethik, und ich habe es getrennt von den anderen bei mir zu Hause verwahrt. Sie wussten nichts von diesem Buch, und ich werde es Ihnen morgen bringen. Es könnte interessanter Lesestoff für Sie sein – es ist sein Hauptwerk.«
»Eine holländische Übersetzung? Ich dachte immer, er wäre Holländer gewesen.«
»Das stimmt auch, aber zur damaligen Zeit schrieben alle Wissenschaftler auf Latein.«
»Bin ich jetzt in Sicherheit?«, fragte Selma, die immer noch sichtlich zitterte. »Ist es sicher, meine Mutter herzubringen? Und sind Sie selbst sicher?«
»Niemand ist vollkommen sicher, solange diese Bestien losgelassen sind. Aber Sie sind in der sichersten Stadt von ganz Holland.
Sie haben die Türen und Fenster des Museums mit Klebeband versiegelt, sie haben die Spinoza-Gesellschaft abgeschafft, und die deutsche Regierung hat Anspruch auf dieses Haus angemeldet. Aber ich bezweifle stark, dass sie jemals in dieses leere Museum zurückkommen werden. Hier gibt es sonst nichts, was für sie wichtig wäre. Aber um sicher zu gehen, würde ich Sie trotzdem gern einen Monat lang woanders unterbringen. Mehrere Familien in Rijnsburg haben sich bereit erklärt, Sie zu verstecken. Sie haben viele Freunde in Rijnsburg. In der Zwischenzeit werde ich eine Toilette in Ihrem Zimmer einbauen, bevor Ihre Mutter nächsten Monat eintrifft.«
Als die Bücher in Berlin ankamen, befahl Alfred seinen Männern, sie augenblicklich in sein Büro nach Hause zu schaffen. Am nächsten Morgen ging er mit der Kaffeetasse in der Hand in sein Büro, setzte sich und starrte die Bücher an. Er wollte nur in dem Anblick und dem Duft dieser kostbaren Werke schwelgen – dieser Bücher, welche Spinoza persönlich in Händen gehalten hatte. Stundenlang strich er zärtlich über die Bücher und las die Titel. Einige Autoren waren ihm vertraut – Vergil, Homer, Ovid, Cäsar, Aristoteles, Tacitus, Petrarca, Plinius, Cicero, Livius, Horaz, Epiktet, Seneca und ein fünfbändiges Werk von Machiavelli. Ach , klagte er, wäre ich nur aufs Gymnasium gegangen . Dann hätte ich alle lesen können. Kein Latein, kein Griechisch – die Tragödie meines Lebens. Und dann wurde ihm urplötzlich bewusst, dass es kein einziges Buch gab, das er hätte lesen können: Keines davon war auf Deutsch oder Russisch geschrieben. Es gab zwar auch den Discours de la Méthode von Descartes, aber Alfreds Französisch war ausgesprochen dürftig.
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