1940 informierte Hitler die gesamte NSDAP formell von der Gründung des ERR-Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg, dessen Mission es war, alle europäischen Kunstwerke und Bücher im Eigentum von Juden für das Reich zu konfiszieren. Rosenberg fand sich am Kopf einer riesigen Organisation, die gemeinsam mit dem Militär in besetztes Gebiet einfiel, um »herrenloses« jüdisches Eigentum, das Deutschland für wertvoll erachtete, sicherzustellen und zu konfiszieren.
Alfred war begeistert. Das war seine dankbarste Aufgabe. Wenn er zusammen mit seinen Leuten vom ERR über die Straßen Prags und Warschaus stolzierte, sinnierte er: Macht! Endlich Macht! Die Entscheidung über Leben und Tod von jüdischen Bibliotheken und Galerien in ganz Europa zu besitzen. Und auch ein Druckmittel gegen Göring zu haben, der plötzlich so nett zu mir ist. Seine gierigen Hände greifen überall in Europa nach erbeuteten Kunstwerken. Aber nun komme ich an erster Stelle. Ich kann Kunstwerke für den Führer zuerst auswählen, bevor Göring sie mir für seine eigene Sammlung wegschnappen kann. Was für eine Habgier! Göring hätte man schon vor langer Zeit beseitigen sollen. Warum duldet der Führer einen solchen Verrat an arischer Tradition und Ideologie?
Die Beschlagnahme der jüdischen Bibliotheken in Polen und der Tschechoslowakei steigerte auch Alfreds Verlangen nach dem größten Schatz von allen – der Bibliothek im Museum von Rijnsburg. Mit festem Blick auf Spinozas Bibliothek schrieb Alfred eifrig Schlagzeile um triumphierende Schlagzeile über die Fortschritte der Nazis an der Westfront. »Nichts kann unseren Blitzkrieg aufhalten«, tönte der Völkische Beobachter . Ein Land nach dem anderen beugte sich Hitlers Übermacht, und schon bald waren die Niederlande an der Reihe. Obwohl dieses kleine Land im Ersten Weltkrieg neutral geblieben war und sich für den neuen Krieg das Gleiche erhoffte, hatte Hitler andere Pläne. Am zehnten Mai 1940 fielen die Nazitruppen mit voller Wucht in die Niederlande ein. Vier Tage später legte die Luftwaffe einen Bombenteppich über die Industriestadt Rotterdam und zerstörte eine ganze Quadratmeile in der Innenstadt, und am folgenden Tag kapitulierten die holländischen Streitkräfte. Alfred jubilierte, als er die Schlagzeilen und den Artikel über den fünftägigen Krieg gegen die Niederlande für die Titelseite des Völkischen Beobachters vorbereitete und einen Leitartikel über die Unbesiegbarkeit des Blitzkrieges der Nationalsozialisten verfasste. Alfreds Verhalten verblüffte seine Mitarbeiter – nie zuvor hatten sie ihn so übers ganze Gesicht grinsen sehen. War das tatsächlich Alfred Rosenberg, der im Büro Champagnerflaschen entkorkte, Gläser für alle vollschenkte und lautstark Trinksprüche ausbrachte, zuerst auf den Führer und dann zum Gedenken Dietrich Eckarts?
Ein paar Wochen zuvor war Alfred durch Zufall über ein Zitat von Alfred Einstein gestolpert: »Das Geheimnis der Kreativität ist es, seine Quellen zu verstecken zu wissen.« Zuerst schnaubte er – »dreiste Verlogenheit, typisch jüdische Heuchelei« – und kümmerte sich nicht weiter darum. Aber unerklärlicherweise kam ihm Einsteins Aussage noch Tage danach immer wieder in den Sinn. War das vielleicht eine Möglichkeit, das Spinoza-Problem zu lösen? Vielleicht waren die »eigenen« Gedanken Spinozas ja gar nicht so eigen gewesen? Vielleicht lag der wahre Ursprung seiner Gedanken irgendwo in den 151 Büchern seiner persönlichen Bibliothek?
Der ERR, Alfreds plündernder Einsatzstab, war im Februar 1941 bereit, in den Niederlanden zur Tat zu schreiten. Alfred flog nach Amsterdam und nahm an einer Mitarbeiterversammlung teil, die von Werner Schwier organisiert worden war, dem deutschen Funktionär, der für die Liquidation des Freimaurertums und ähnlicher Organisationen in den Niederlanden verantwortlich zeichnete. Die Nationalsozialisten hassten die Freimaurer, egal, ob deren Mitglieder Juden oder Nichtjuden waren. Hitler behauptete in Mein Kampf , dass die Freimaurerei sich von den Juden habe einwickeln lassen und eine der Haupttriebkräfte dafür gewesen sei, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Anwesend bei der Mitarbeiterversammlung war Schwiers Belegschaft, bestehend aus einem Dutzend »Bezirksliquidatoren«, die alle für ihr eigenes Gebiet zuständig waren. Vor der Versammlung hatte Schwier Alfreds Zustimmung zu den Anweisungen eingeholt, die er an die Liquidatoren verteilen wollte. Alle Gegenstände mit freimaurerischen Emblemen sollten vernichtet werden: Gläser, Büsten, Malereien, Abzeichen, Schmuck, Schwerter, Ringe, Bleie, Kellen, Hämmer, siebenarmige Kandelaber und Sextanten. Alle Holzgegenstände mit nicht entfernbaren Emblemen mussten zerschlagen oder verbrannt werden. Alle freimaurerischen Lederschürzen sollten in vier Teile zerschnitten und konfisziert werden. Während er die Liste durchlas, überzog ein Lächeln Afreds Gesicht, und er nahm nur eine einzige Korrektur vor: Lederschürzen sollten vor der Konfiszierung in sechzehn Teile zerschnitten werden. Mit allem anderen war er einverstanden, und er lobte Schwier für seine Gründlichkeit.
Dann warf er abermals einen Blick auf die Liste der zu konfiszierenden Objekte und fragte: »Herr Schwier, ich sehe, dass Sie das Spinoza-Haus in Rijnsburg auf der Liste haben. Warum?«
»Die ganze Spinoza-Gesellschaft wimmelt von Freimaurern.«
»Halten die Leute denn Freimaurertreffen im Spinoza-Haus ab?«
»Meines Wissens nicht. Wir haben noch nicht herausgefunden, wo diese Treffen in Rijnsburg stattfinden.«
»Ich autorisiere Sie mit der Verhaftung aller verdächtigen Freimaurer, aber überlassen Sie das Spinoza-Haus dem ERR. Ich werde dem Spinoza-Haus einen persönlichen Besuch abstatten und die Bibliothek konfiszieren. Falls ich dabei auf irgendwelches Material der Freimaurer stoße, werde ich es Ihnen übergeben.«
»Sie persönlich , Herr Reichsleiter? Selbstverständlich. Brauchen Sie Hilfe? Ich würde mich glücklich schätzen, ein paar meiner Männer für Sie abzustellen.«
»Vielen Dank, nein. Meine Männer vom ERR stehen bereit, und wir sind auf alles vorbereitet.«
»Dürfte ich mir die Frage erlauben, Herr Reichsleiter, weshalb dieses Objekt so wichtig ist, dass Sie persönlich sich darum kümmern?«
»Spinozas Bibliothek und sein Werk im Allgemeinen dürften für die Hohe Schule von Wichtigkeit sein. Seine Bibliothek erfordert meinen persönlichen Einsatz. Es könnte möglicherweise im Museum einer ausgestorbenen Rasse ausgestellt werden, das der Führer ins Leben rufen will.«
Zwei Tage später trafen Rosenberg und sein persönlicher Assistent, Oberbereichsleiter Schimmer, mit einer Luxus-Mercedes-Limousine, gefolgt von einer weiteren Limousine und einem Kleinlastwagen mit ERR-Mitarbeitern und leeren Kisten, in Rijnsburg ein. Alfred stellte zwei Mitglieder der Truppe für die Bewachung des Hauses des Museumswärters ab, das an das Museum angrenzte, und zwei weitere Soldaten für die Verhaftung des Vorsitzenden der Spinoza-Gesellschaft, der eine Straße weiter wohnte. Die Tür zum Museum war versperrt, aber in kurzer Zeit wurde Gerard Egmond, der Museumswärter, aufgetrieben, der die Tür aufsperrte und öffnete. Alfred schlenderte durch den Vorraum zum Bücherschrank. Er fand ihn nicht so vor, wie er ihn in Erinnerung hatte – viel spärlicher gefüllt. Schweigend zählte er die Bücher. Achtundsechzig.
»Wo sind die übrigen Bücher?«, verlangte Alfred zu wissen.
Erschrocken und ängstlich zuckte der Museumswärter die Schultern.
»Die übrigen dreiundachtzig Bücher«, präzisierte Alfred und zog seine Pistole.
»Ich bin nur der Wärter. Ich weiß nichts darüber.«
»Wer weiß es?«
In diesem Augenblick kamen seine Männer mit Johannes Diderik Bierens de Haan herein, dem betagten Vorsitzenden der Spinoza-Gesellschaft, einem würdevollen, gutgekleideten, älteren Mann mit weißem Ziegenbart und Stahlrandbrille. Alfred drehte sich zu ihm um und fuchtelte mit der Pistole in Richtung des halb leeren Bücherschrankes. »Wir sind wegen der Bibliothek hier, die wir sicherstellen wollen. Wo sind die anderen dreiundachtzig Bücher? Halten Sie uns für Idioten?«
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