Und die meisten Titel kannte er überhaupt nicht: eine ganze Menge hebräischer Texte, vermutlich das Alte Testament und biblische Kommentare, und viele Autoren, von denen er noch nie gehört hatte wie Nizolius, Josephus und Pagninus. Den Illustrationen nach zu schließen, waren einige davon Werke über Optik (Huygens, Longomontanus), andere anatomisch (Riolan) oder mathematisch. Alfred hatte erwartet, Anhaltspunkte über Lesezeichen oder Marginalien zu finden, die Spinoza vielleicht selbst angebracht hatte, und verbrachte den Rest des Tages damit, jede einzelne Seite jeden Buches umzublättern. Aber vergebens – es gab nichts, keine Spur von Spinoza. Bis zum Nachmittag wurde ihm die unbarmherzige Realität bewusst: Ihm fehlte das Wissen, um anhand der Bibliothek irgendetwas über Spinoza zu erfahren. Offensichtlich musste sein nächster Schritt darin bestehen, sich von klassisch ausgebildeten Wissenschaftlern beraten zu lassen.
Doch Hitler hatte andere Pläne mit ihm. Kurz nachdem die Bibliothek bei Rosenberg ankam, fielen viereinhalb Millionen deutscher Soldaten in Russland ein. Hitler ernannte Rosenberg zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und verlangte von ihm, einen Masterplan für ein Gebiet in Westrussland zu entwickeln, in dem dreißig Millionen Russen lebten und das von Deutschen neu besiedelt werden sollte. Fünfzehn Millionen Russen sollten deportiert werden. Die anderen fünfzehn Millionen sollten bleiben dürfen, aber innerhalb von dreißig Jahren »germanisiert« werden.
Alfred hatte eine dezidierte Meinung zu Russland. Er glaubte, dass Russland nur von Russen besiegt werden konnte und dass die Deutschen alles versuchen sollten, das Land zu balkanisieren und anzustreben, Kampftruppen, bestehend aus Ukrainern, aufzubauen, die gegen die Bolschewisten marschieren sollten.
Diese anspruchsvolle Aufgabe, zunächst ein Triumph für Rosenberg, verwandelte sich bald in eine Katastrophe. Er legte Hitler seinen Plan vor, aber die Heeresführung war vehement dagegen und ignorierte oder unterminierte sämtliche seiner Vorschläge. Sie ließen es zu, dass Zehntausende ukrainischer Kriegsgefangener in den Lagern starben und Millionen von Zivilisten verhungerten, indem sie alle Lebensmittel nach Deutschland transportierten. Rosenberg beschwerte sich unverdrossen bei Hitler, der ihm schließlich eine grobe Antwort gab: »Hören Sie auf, sich in Militärangelegenheiten zu mischen. Seitdem Sie sich mit ideologischen Themen beschäftigen, ist Ihnen der Kontakt zum Tagesgeschäft abhanden gekommen.«
Bestsellerautor mit Millionenauflage. Herausgeber der wichtigsten Tageszeitung. Ein prestigeträchtiger Regierungsposten nach dem anderen: Vordenker der NS-Ideologie, verantwortlich für die Ausbildung, Leiter des ERR, Reichsminister für besetzte Ostgebiete. Und trotzdem im inneren Zirkel der NSDAP unbeliebt und verlacht. Wie konnte Rosenberg so viele Ehren anhäufen? Eine zuweilen abstruse, verworrene, unverständliche Prosa zieht eine unrealistisch abgehobene Einschätzung der Intelligenz des Autors nach sich. Vielleicht ließ Hitler deswegen nicht locker, Rosenberg so viele anspruchsvolle Aufgaben anzubieten.
Als die Russen schließlich die deutschen Truppen zurückschlugen und ihr Territorium wieder befreiten, wurde Alfreds Posten als Reichsminister der besetzten Ostgebiete irrelevant, und er bot seinen Rücktritt an. Hitler war zu beschäftigt, um darauf zu antworten.
Seine Hoffnung auf ein eingehendes Studium der Bibliothek Spinozas wurde nie realisiert. Es dauerte nicht lange, bis die Alliierten Berlin mit voller Wucht bombardierten. Als ein Haus nur hundert Meter von seinem eigenen zerstört wurde, gab Alfred den Auftrag, die Bibliothek nach Frankfurt in Sicherheit zu bringen.
Alfreds Völkischer Beobachter , das »Kampfblatt des nationalistischen Deutschlands«, kämpfte bis zum bitteren Ende, und unverdrossen fuhr Alfred fort, Hitler sklavisch in seinem Blatt zu preisen. In einer der letzten Ausgaben (vom 20. April 1945) ließ Rosenberg ihn anlässlich seines sechsundfünfzigsten Geburtstags hochleben, pries Hitler als den »Mann des Jahrhunderts«. Zehn Tage später, als die anrückende russische Armee nur noch wenige Straßenzüge vor Hitlers unterirdischem Bunker stand, heiratete der Führer Eva Braun, verteilte Zyanidkapseln an die Hochzeitsgäste, schrieb seinen letzten Willen und erschoss sich, nachdem seine Frau Zyanid geschluckt hatte. Vierundzwanzig Stunden später töteten Goebbels und seine Frau ihre sechs Kinder mit Morphium und Zyanid und brachten sich anschließend gemeinsam um. Ungeachtet dessen rotierten die Druckerpressen des Völkischen Beobachters bis zur deutschen Kapitulation am achten Mai 1945. Als seine Büros gestürmt wurden, fanden die Russen einige vordatierte Exemplare. Die letzte nicht verteilte Ausgabe, datiert auf den elften Mai 1945, enthielt einen Überlebensleitfaden mit dem Titel »Überleben auf deutschen Feldern und in deutschen Wäldern«.
Nach Hitlers Tod flohen Alfred und mit ihm andere überlebende Nazi-Führer nach Flensburg, wo Admiral Dönitz, das neue Staatsoberhaupt, seine Regierung zusammenrief. Alfred hoffte darauf, dass er als dienstältester überlebender Reichsleiter gebeten wurde, dem Kabinett beizutreten. Aber niemand nahm überhaupt Notiz von ihm. Schließlich schickte er einen sorgfältig formulierten Kapitulationsbrief an Feldmarschall Montgomery. Aber selbst die Briten erkannten seine Bedeutung nicht gebührend an, und Reichsleiter Rosenberg wartete sechs Tage lang ungeduldig in seinem Hotel, bis die britische Militärpolizei auftauchte und ihn festnahm. Kurz danach wurde er der amerikanischen Obhut überstellt und davon informiert, dass er zusammen mit einer kleinen Gruppe von NS-Hauptkriegsverbrechen ausgewählt wurde, um im eigens dafür einberufenen internationalen Tribunal in Nürnberg angeklagt zu werden.
NS-Hauptkriegsverbrecher! Tatsächlich! Ein Lächeln huschte über Alfreds Lippen.
In der Zwischenzeit stiegen in Rijnsburg am achten Mai, am Tag des Kriegsendes, Selma de Vries-Cohen und deren betagte Mutter Sophie aus ihrem winzigen Zimmer von der Leiter und traten zum ersten Mal seit Jahren hinaus in die Sonne. Sie gingen ums Haus herum zum Eingang des Spinoza-Hauses, wo sie sich ins Gästebuch eintrugen – es war die erste Eintragung seit vier Jahren: »In dankbarer Erinnerung an die Zeit, die wir uns hier verbergen durften. An das Spinoza-Haus und an diejenigen, die so vortrefflich für uns sorgten und unser Leben vor der deutschen Bedrohung retteten.«
33
VOORBURG, DEZEMBER 1666
Bento schüttelte erstaunt den Kopf, ging zur huishouder und sagte ihr leise auf Holländisch, dass sie beide auf das Mittagessen verzichten wollten.
Nachdem sie fort war, rief er: »Koscher! Sie essen koscher?«
»Natürlich! Bento, was dachten Sie denn? Ich bin Rabbiner!«
»Und ich bin ein verdutzter Philosoph. Sie sind mit mir einer Meinung, dass es keinen übernatürlichen Gott gibt, der Wünsche hat oder Forderungen stellt, der zufrieden oder irritiert ist und der sich unserer Wünsche, Gebete, ja selbst unserer schieren Existenz nicht bewusst ist?«
»Natürlich bin ich dieser Meinung.«
»Und Sie sind auch mit mir einer Meinung, dass die gesamte Thora – einschließlich Leviticus mit der Halacha und allen ihren obskuren Speisevorschriften – eine Sammlung theologischer, rechtlicher, mythologischer und politischer Schriften ist, die Ezra vor zweitausend Jahren zusammengestellt hat?«
»Sie sagen es.«
»Und dass Sie ein neues, aufgeklärtes Judentum ins Leben rufen werden?«
»Das ist meine Hoffnung.«
»Aber aufgrund von Gesetzen, von denen Sie wissen, dass sie reine Erfindung sind, können Sie nicht mit mir speisen?«
»Ah, was Letzteres angeht, haben Sie nicht Recht, Bento.« Franco griff in seine Tasche und entnahm ihr ein Paket. »Die Familie, die ich in Den Haag besucht habe, gab mir etwas zu essen mit. Genießen wir nun gemeinsam ein jüdisches Mahl.«
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