»Das ist ein seltenes Privileg.«
»Ich hörte Gerüchte, dass Ihnen ein solches Stipendium auch einmal angeboten wurde. Vielleicht wurde es durch einen Wink des Schicksals an mich weitergegeben. Vielleicht werde ich dafür belohnt, dass ich Sie verraten habe.«
»Welchen Grund nannte Ihnen Rabbi Mortera?«
»Als ich ihn fragte: ›Wie habe ich das verdient?‹, überraschte er mich. Er sagte, das Stipendium sei seine Art, die Art der jüdischen Gemeinde, meinen Vater zu ehren. Dessen Ruf und die Reputation seiner langen Linie rabbinischer Vorfahren ist anscheinend viel besser, als ich gedacht hatte. Aber er fügte auch hinzu, dass ich ein vielversprechender Schüler sei, der vielleicht eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten könne.«
»Und …« Bento holte tief Luft. »Was empfanden Sie bei diesen Worten des Rabbi?«
»Dankbarkeit. Bento Spinoza, Sie machten mich wissensdurstig, und zur Freude des Rabbis tauchte ich in ein erquickliches Studium des Talmud und der Thora ein.«
»Ich verstehe. Äh … nun … Sie haben viel erreicht. Das Hebräisch in Ihrem Brief ist ausgezeichnet.«
Eine kurze Stille trat ein. Beide öffneten gleichzeitig den Mund, um weiterzusprechen, und hielten dann inne. Nach kurzem Schweigen fragte Franco: »Bento, als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie in großer Furcht. Sie erholten sich schnell?«
Bento nickte. »Ja, und zum nicht geringen Teil Ihnen zum Dank. Sie sollen wissen, dass ich den zerfetzten Mantel auch in Rijnsburg immer noch gut sichtbar aufgehängt habe. Das war ein hervorragender Rat.«
»Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Leben.«
»Nun, was soll ich sagen? Den halben Tag schleife ich Glas, und die übrige Zeit denke, lese und schreibe ich. Abgesehen davon gibt es wenig zu erzählen. Ich lebe vollkommen in meinem Geist.«
»Und diese junge Frau, die mich damals zu Ihrem Zimmer hinaufbrachte? Die, die Ihnen so viel Kummer bereitete?«
»Sie und mein Freund Dirk wollen heiraten.«
Eine kurze Stille folgte. Franco fragte: »Und? Erzählen Sie mir mehr darüber.«
»Wir bleiben Freunde, aber sie ist gläubige Katholikin, und er wird zum katholischen Glauben konvertieren. Ich denke, dass unsere Freundschaft leiden wird, sobald ich meine Ansichten über Religion veröffentlicht habe.«
»Und Ihre Bedenken hinsichtlich der Macht Ihrer Leidenschaften?«
»Nun …«, Bento zögerte. »Seit ich sie zum letzten Mal sah, genieße ich die Ruhe.«
Wieder entstand eine Stille, die Franco schließlich brach.
»Sie merken heute bestimmt, dass sich zwischen uns etwas verändert hat.«
Bento zuckte verwirrt die Achseln. »Was meinen Sie damit?«
»Ich meine die Gesprächspausen. Vorher gab es bei uns noch nie Gesprächspausen. Wir hatten einander immer viel zu viel zu sagen – wir plauderten ohne Pause. Es gab keinen einzigen Augenblick der Stille.«
Bento nickte.
»Mein Vater, gesegnet sei sein Name«, fuhr Franco fort, »sagte immer, dass, wenn über etwas Bedeutendes nicht gesprochen wird, dann kann auch sonst nichts von Bedeutung gesagt werden. Stimmen Sie mir zu, Bento?«
»Ihr Vater war ein weiser Mann. Etwas Bedeutendes? Was meinen Sie?«
»Zweifellos hat es mit meiner Erscheinung und meiner Begeisterung für meine jüdische Ausbildung zu tun. Ich vermute, dass Sie dies beunruhigt, und nun wissen Sie nicht, was Sie sagen sollen.«
»Ja, in Ihren Worten liegt Wahrheit. Aber … nun ja … ich weiß nicht, was ich …«
»Bento, ich bin nicht daran gewöhnt, dass Sie nach Worten suchen. Wenn ich für Sie sprechen darf, so glaube ich, dass dieses ›Bedeutende‹ Ihr Missfallen meiner Studienrichtung gegenüber ist, doch gleichzeitig sind Sie mir herzlich zugetan, möchten meine Entscheidung respektieren und nichts sagen, was mir Unbehagen bereitet.«
»Gut gesagt, Franco. Ich konnte die richtigen Worte nicht finden. Sie wissen, dass Sie in solchen Dingen ungewöhnlich gut sind.«
»In solchen Dingen?«
»Ich meine, die Nuancen dessen zu verstehen, was zwischen Leuten gesagt und nicht gesagt wird. Sie verblüffen mich mit Ihrem Scharfsinn.«
Franco beugte den Kopf. »Danke, Bento. Das hat mir mein seliger Vater vererbt. Ich lernte es von Kindesbeinen an.«
Erneutes Schweigen.
»Bitte, Bento, versuchen Sie, mir zu sagen, was Sie bis jetzt über unser heutiges Treffen denken.«
»Ich will es versuchen. Es stimmt, etwas ist anders. Wir haben uns verändert, und es fällt mir ungewöhnlich schwer, damit zurechtzukommen. Sie müssen mir helfen, es aufzulösen.«
»Am besten wird es sein, wenn Sie einfach darüber sprechen, auf welche Weise wir uns verändert haben. Von Ihrer Perspektive aus, meine ich.«
»Bis jetzt war ich es, der der Lehrmeister war, und Sie der Schüler, der meine Ansichten teilte und sein Leben mit mir im Exil verbringen wollte. Jetzt ist alles anders geworden.«
»Weil ich mich jetzt mit dem Studium der Thora und des Talmud beschäftige?«
Bento schüttelte den Kopf. »Es ist mehr als das Studium: Ihre genauen Worte waren ›erquickliches Studium‹. Und Sie hatten Recht mit Ihrer Diagnose meines Herzens. Ich hatte tatsächlich Angst, Sie zu verletzen oder Ihre Freude zu mindern.«
»Glauben Sie, dass unsere Wege sich trennen?«
»Ist es nicht so? Selbst wenn Sie keine Familie hätten, die Sie hält, würden Sie sich denn heute noch dafür entscheiden, meinen Weg mit mir zu gehen?«
Franco zögerte und dachte lange nach, bevor er antwortete: »Meine Antwort, Bento, ist: Ja und nein. Ich glaube, ich würde nicht Ihren Lebensweg einschlagen. Und auch wenn das so ist, haben sich unsere Wege nicht getrennt.«
»Wie kann das sein? Erklären Sie es mir.«
»Ich teile noch immer voll und ganz Ihre Kritik zu religiösem Aberglauben, die Sie in den Gesprächen mit Jacob und mir äußerten. Insoweit stimme ich mit Ihnen vollkommen überein.«
»Und trotzdem empfinden Sie große Freude bei Ihrem Studium abergläubischer Texte?«
»Nein, das ist nicht richtig. Ich habe Freude am Vorgang des Studierens, nicht immer am Inhalt dessen, was ich studiere. Wissen Sie, mein Lehrmeister, es gibt einen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen.«
»Bitte erklären Sie mir das, mein Lehrmeister.« Bento, der nun sehr erleichtert war, grinste übers ganze Gesicht, streckte den Arm aus und zerzauste Francos Haar.
Franco erwiderte sein Grinsen, hielt einen Augenblick inne und genoss Bentos Berührung. Dann fuhr er fort: »Mit Vorgang meine ich, dass ich große Freude daran habe, mich mit intellektuellen Studien zu befassen. Das Studium des Hebräischen gefällt mir sehr, und ich genieße es, dass sich die ganze antike Welt vor mir auftut. Mein Studium des Talmud ist viel interessanter, als ich es mir vorgestellt habe. Erst kürzlich diskutierten wir eine Geschichte von Rabbi Yohanan …«
»Welche Geschichte?«
»Die Geschichte, dass er einen anderen Rabbiner heilte, indem er ihm die Hand reichte. Und als er selbst einmal krank wurde, besuchte ihn ein anderer Rabbiner und fragte: ›Sind dir deine Leiden willkommen?‹ Und Rabbi Yohanan gab zur Antwort: ›Nein, weder sie noch ihr Lohn.‹ Und so heilte der andere Rabbiner dann Rabbi Yohanan, indem er ihm seine Hand reichte.«
»Ja, ich kenne diese Geschichte. Und in welcher Hinsicht fanden Sie sie interessant?«
»In unserer Diskussion warfen wir viele Fragen auf. Zum Beispiel: Warum heilte Rabbi Yohanan sich nicht einfach selbst?«
»Und natürlich diskutierte die Klasse das Argument, dass ein Gefangener sich nicht selbst befreien kann und dass der Lohn der Leiden im Jenseits liegt.«
»Ja, ich weiß, das ist sehr vertraut, vielleicht ermüdend für Sie, aber für jemanden wie mich sind solche Diskussionen anregend. Wo sonst hätte ich wohl die Gelegenheit, mit Gesprächen wie diesen der eigenen Seele auf den Grund zu gehen? Einige in meiner Klasse sagten das eine, andere widersprachen, wieder andere fragten sich, weshalb bestimmte Worte verwendet wurden, wo ein anderes Wort vielleicht größere Klarheit gebracht hätte. Unser Lehrer ermutigt uns, jedes winzige Bruchstück an Information im Text zu überprüfen.
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