»Nun«, hakte Jacob nach, »höre ich recht, dass Sie die Existenz des Jenseits leugnen?«
»Das Jenseits, unsterbliches Leben, glückseliges Leben nach dem Tod – ich wiederhole: Alle diese Begriffe sind die Erfindungen von Rabbinern.«
»Sie leugnen also«, beharrte Jacob, »dass die Rechtschaffenen immerwährende Freude und die Gemeinschaft mit Gott finden werden und dass das Böse geschmäht und ewiger Verdammnis anheimfallen wird?«
»Es widerspricht der Vernunft zu glauben, dass wir, so wie wir heute sind, nach dem Tode weiterbestehen. Der Körper und der Geist sind zwei Aspekte derselben Person. Der Geist kann nicht weiterbestehen, nachdem der Körper gestorben ist.«
»Aber«, Jacob sprach nun laut, er war sichtlich erregt, »wir wissen, dass der Körper auferstehen wird. Alle unsere Rabbiner lehren uns das. Maimonides hat es klar ausgeführt. Es ist eines der dreizehn Prinzipien jüdischen Glaubens. Es ist die Grundlage unseres Glaubens.«
»Ich muss ein schlechter Lehrer sein, Jacob. Ich dachte, ich hätte die Unmöglichkeit solcher Dinge erschöpfend erklärt, doch nun schweifen Sie abermals ins Land der Wunder ab. Ich darf Ihnen nochmals in Erinnerung rufen, dass all dies menschliche Ansichten sind; sie haben nichts mit den Gesetzen der Natur zu tun, und nichts kann im Gegensatz zu den feststehenden Gesetzen der Natur vorkommen. Die Natur, welche unendlich und ewig ist und alle Substanzen im Universum einschließt, wirkt im Einklang mit genau geregelten Gesetzen, welche nicht von übernatürlichen Mitteln abgelöst werden können. Ein verwester Körper, zu Staub zerfallen, kann nicht wieder zusammengesetzt werden. Das Erste Buch Mose nimmt dazu klar Stellung: ›Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.‹«
»Heißt das, dass ich mit meinem Vater, der den Märtyrertod starb, nie mehr vereint sein werde?«, fragte Franco.
»Genau wie Sie sehne ich mich auch danach, meinen seligen Vater wiederzusehen. Aber die Gesetze der Natur sind, wie sie sind. Franco, ich teile Ihre Sehnsucht, und als ich ein Kind war, glaubte ich auch, dass es einmal das Jüngste Gericht geben würde und dass wir eines Tages nach unserem Tod wieder vereint sein werden – ich mit meinem Vater und meiner Mutter, obwohl ich damals, als sie starb, noch so klein war, dass ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Und natürlich würden sie mit ihren Eltern und diese wiederum mit deren Eltern vereint werden, ad infinitum .«
»Doch nun«, fuhr Bento mit weicher, eindringlicher Stimme fort, »habe ich diese kindlichen Hoffnungen aufgegeben und sie durch das sichere Wissen ersetzt, dass ich meinen Vater in mir behalte – sein Gesicht, seine Liebe, seine Weisheit –, und auf diese Weise bin ich schon jetzt mit ihm vereint. Eine selige Wiedervereinigung muss in diesem Leben stattfinden, denn dieses Leben ist das Einzige, was wir haben. Es gibt keine ewige Seligkeit im Jenseits, weil es kein Jenseits gibt. Unsere Aufgabe, und ich glaube, dass uns die Thora das lehrt, ist es, Seligkeit in diesem Leben jetzt dadurch zu erlangen, dass wir ein Leben in Liebe leben und Gott kennen lernen. Wahre Frömmigkeit besteht aus Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und der Liebe zu seinem Nächsten.«
Jacob stand auf und stieß seinen Stuhl grob zur Seite. »Genug! Für heute habe ich genug Ketzerei gehört. Genug für ein ganzes Leben. Wir gehen. Komm, Franco.«
Als Jacob Francos Hand packte, sagte Bento: »Nein, noch nicht, Jacob. Es gibt noch eine wichtige Frage, die Sie zu meiner Überraschung noch nicht gestellt haben.«
Jacob ließ Francos Arm los und sah Bento argwöhnisch an: »Welche Frage?«
»Ich sagte zu Ihnen, dass die Natur ewig ist und unendlich, dass sie alle Substanzen einschließt und dass alles, was entsteht, ihren Gesetzen folgt.«
»Ja?« Jacobs Gesicht war gefurcht und fragend: »Welche Frage?«
»Und sagte ich nicht zu Ihnen, dass Gott ewig und unendlich ist und jede Substanz einschließt?«
Jacob nickte. Er war vollkommen verwirrt.
»Sie sagen, sie hätten zugehört, Sie sagen, Sie hätten genug gehört, und doch haben Sie mir die wesentlichste Frage nicht gestellt.«
»Welche Frage?«
»Wenn Gott und die Natur identische Eigenschaften besitzen, was ist dann der Unterschied zwischen Gott und der Natur?«
»Also gut«, sagte Jacob. »Ich frage Sie: Was ist der Unterschied zwischen Gott und der Natur?«
»Und ich gebe Ihnen die Antwort, die Sie bereits kennen – es gibt keinen Unterschied. Gott ist die Natur. Die Natur ist Gott.«
Jacob und Franco starrten beide Bento an, dann riss Jacob Franco wortlos vom Stuhl und zerrte ihn auf die Straße hinaus.
Als sie außer Sicht waren, legte Jacob den Arm um Franco und drückte ihn. »Gut, gut, Franco, wir haben genau das aus ihm herausgekitzelt, was wir brauchten. Und du hieltest ihn für einen weisen Mann? Was für ein Narr er doch ist!«
Franco riss sich aus Jacobs Umarmung. »Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Möglicherweise bist du der Narr, dass du ihn für einen Narren hältst.«
Charakter ist Schicksal. Die neue Welle psychoanalytischen Denkens, die Friedrich begeistert annahm, pflichtete Spinoza bei, dass die Zukunft von dem bestimmt wird, was ihr vorausging: von unserer physischen und psychologischen Veranlagung – unseren Leidenschaften, Ängsten, Zielen; unserem Temperament, unserer Selbstliebe, unserer Einstellung anderen gegenüber.
Aber betrachten wir Rosenberg, einen prätentiösen, abgehobenen, lieblosen, wenig liebenswerten Möchtegernphilosophen, der jegliche Neugier über sich selbst vermissen ließ und trotz seines nur eingebildeten Selbstbewusstseins mit einem dünkelhaften Gefühl der Überlegenheit auf Erden wandelte. Konnte Friedrich, konnte irgendjemand, der die Natur des Menschen studierte, den kometenhaften Aufstieg Alfred Rosenbergs voraussehen? Nein. Charakter allein reicht für eine Prophezeiung nicht aus. Es gibt eine weitere zentrale, nicht vorhersehbare Ingredienz. Wie sollen wir sie nennen? Glück? Zufall? Das schlichte Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein?
Die rechte Zeit? November 1918. Der Krieg ging zu Ende, und Deutschland, verwundet und entsetzt angesichts seiner Niederlage, befand sich im Chaos und wartete auf einen Retter. Und der rechte Ort? München. Bald schon sollte Alfred Rosenberg sich auf den Weg zu diesem auserwählten Ort machen, dessen dunkle Seitengässchen und beliebte Bierkeller ein Drama von großer Tragweite ausbrüteten und nur noch auf die Ankunft seiner pervertierten, bösartigen Ausgeburt warteten.
Alfred blieb weitere sechs Wochen in Reval und versuchte, sich mit Kunstunterricht an deutschsprachigen Schulen über Wasser zu halten. Er war verblüfft, als er bei einer Gelegenheit für zwei seiner Zeichnungen eine geringe Summe erzielte – das erste und einzige Geld, das er je mit seiner Kunst verdienen sollte. Am folgenden Abend platzte er in Feierlaune in eine Bürgerversammlung, stand verzückt im hinteren Bereich des Auditoriums und lauschte einer Debatte über die Zukunft Estlands. Aus einem Impuls heraus schritt er plötzlich wie in Trance zum Podium vor und hielt eine kurze, leidenschaftliche Rede über die Gefahren des jüdischen Bolschewismus, der im benachbarten Russland lauerte. Wurde er aus dem Konzept gebracht, als der jüdische Besitzer eines großen Warenhauses seine Rede störte und mit einer großen Gruppe von Juden unter Protest zum Ausgang strebte? Ganz und gar nicht. Alfreds Lippen kräuselten sich zu einem wissenden Lächeln, völlig überzeugt davon, dass es eine gute Sache war, seine Zuhörerschaft gesäubert zu haben. Er wünschte diesen Juden nichts Böses. Er hoffte, dass sie sich in ihren eigenen warmen Küchen wohl und behaglich fühlten. Er wollte einfach nur, dass sie aus Reval verschwanden. Allmählich keimte die Saat einer bedeutenden Idee: Sie sollten nicht nur aus Reval verschwinden, nicht nur aus Estland, sondern aus ganz Europa. Das Vaterland konnte nur sicher sein, nur gedeihen, wenn jeder einzelne Jude Europa verlassen hatte.
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