»Was meinst du mit verzwickt?«, fragte Alfred.
»Um jemandem zu helfen, muss man in die Welt dieses Menschen eintauchen, glaube ich. Aber immer wenn ich das bei meiner Mutter versuche, flitzen meine Gedanken davon, und einen Augenblick später denke ich an etwas vollkommen anderes. Gerade vorhin weinte meine Mutter, und als ich ihr den Arm um die Schulter legte, um sie zu trösten, merkte ich, dass meine Gedanken zum heutigen Treffen mit dir wanderten. Einen Moment lang fühlte ich mich schuldig. Dann rief ich mir in Erinnerung, dass ich auch nur ein Mensch bin und dass Menschen zu ihrem Schutz einen eingebauten Verdrängungsmechanismus haben. Ich dachte darüber nach, warum ich mit meinen Gedanken nicht beim Tod meines Vaters bleiben kann. Ich glaube, es liegt daran, dass mich sein Tod mit meinem eigenen Tod konfrontiert, und mich mit dieser Perspektive zu befassen flößt mir einfach zu viel Furcht ein. Ich habe dafür keine andere Erklärung. Wie siehst du das?« Friedrich schwieg und starrte Alfred direkt in die Augen.
»Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus, aber deine Schlussfolgerung scheint mir plausibel zu sein. Ich selbst gestatte mir nie, ernsthaft über den Tod nachzudenken. Es war mir immer zuwider, wenn mein Vater darauf bestand, mit mir zusammen ans Grab meiner Mutter zu gehen.«
Friedrich schwieg, bis er sicher war, dass Alfred nichts mehr sagen wollte. Dann: »Nun, Alfred, das ist eine sehr lange Antwort auf deine höfliche Nachfrage, wie es mir geht, aber wie du siehst, beobachte und diskutiere ich gerne über alle Mechanismen unseres Geistes. Habe ich dir eine ausführlichere Antwort gegeben, als du erwartet oder gewollt hast?«
»Es war eine längere Antwort auf meine Frage, als ich erwartet habe, aber sie war wahrhaftig, sie hatte Substanz, und sie kam von Herzen. Ich bewundere deine Art, Oberflächlichkeiten zu vermeiden und wie bereitwillig du deine Gedanken so ehrlich und so unbefangen äußerst.«
»Aber das gilt auch für dich, Alfred. Gegen Ende unserer gestrigen Unterhaltung hast du sehr tief in dich hineingehorcht. Irgendwelche Nachwirkungen?«
»Ich muss gestehen, dass ich unsicher bin. Ich versuche noch immer, unser Gespräch nachzuvollziehen.«
»Was davon war dir nicht klar?«
»Ich meine nicht die Klarheit von Gedanken, sondern das merkwürdige Gefühl, das ich hatte, als ich mit dir sprach. Ich meine, wir haben uns ja nur kurz unterhalten – nun, vielleicht eine Dreiviertelstunde. Und trotzdem gab ich so viel von mir preis, und ich fühlte mich so angesprochen, so seltsam … vertraut. Als würde ich dich schon mein ganzes Leben lang sehr gut kennen.«
»Und das ist ein unbehagliches Gefühl?«
»Es ist ein gemischtes Gefühl. Es war gut, weil es meinem Gefühl der Wurzellosigkeit die Schärfe nahm, meinem Gefühl der Heimatlosigkeit. Aber es war unbehaglich, weil unsere gestrige Unterhaltung so ausgesprochen eigenartig war – ich muss immer wieder sagen, dass ich ein so persönliches Gespräch bis jetzt noch nie geführt und einem Fremden noch nie so schnell vertraut habe.«
»Aber ich bin ja kein Fremder, schon wegen Eugen. Oder soll ich sagen, ich bin ein vertrauter Fremder, der Zugang zu den Privaträumen deines Elternhauses hatte.«
»Seit gestern gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf, Friedrich. Eines gibt es noch, und ich hätte gern gewusst, ob ich dir eine persönliche Frage stellen darf …«
»Aber natürlich, natürlich. Du brauchst nicht zu fragen – ich mag persönliche Fragen.«
»Als ich dich fragte, wo du dir diese Fähigkeit, zu sprechen und die Gedanken zu erforschen, angeeignet hast, gabst du mir zur Antwort, dass es dein Medizinstudium war. Nun dachte ich an alle Ärzte, die ich kenne, und keiner, nicht ein Einziger, hat auch nur die Spur deiner verbindlichen Art. Denen geht es nur ums Geschäft – ein paar oberflächliche Fragen, keine einzige persönliche Nachfrage, schnell ein rätselhaftes Rezept auf Lateinisch hingekritzelt, gefolgt von ›Der Nächste bitte‹. Warum bist du so anders, Friedrich?«
»Ich war nicht ganz ehrlich, Alfred«, gab Friedrich zur Antwort und sah Alfred mit seiner üblichen Direktheit in die Augen. »Es stimmt, dass ich Arzt bin, aber ich habe dir etwas verschwiegen – ich habe auch eine abgeschlossene Ausbildung in Psychiatrie, und das war es, was mein Denken und meine Sprache geschliffen hat.«
»Das kommt mir so … so banal vor. Warum die Mühe, diese Tatsache zu verschweigen?«
»Heutzutage werden immer mehr Menschen nervös, schrecken zurück und schauen zur Tür, wenn sie erfahren, dass ich Psychiater bin. Sie haben die absurde Vorstellung, dass Psychiater Gedanken lesen können und alle ihre dunklen Geheimnisse kennen.«
Alfred nickte. »Nun, vielleicht ist das gar nicht so abwegig. Gestern kam es mir jedenfalls so vor, als könntest du meine Gedanken lesen.«
»Aber nein, nein, nein. Aber ich lerne, meine eigenen Gedanken zu lesen, und dank dieser Erfahrung kann ich dich dazu anleiten, deine eigenen Gedanken zu lesen. Das ist die Hauptrichtung meines Fachgebietes.«
»Ich muss zugeben, dass du der erste Psychiater in meinem Leben bist. Ich weiß nichts über dein Fachgebiet.«
»Nun, jahrhundertelang waren Psychiater in erster Linie Diagnostiker und betreuten in Krankenhäusern psychotische, fast immer unheilbare Patienten. Aber das hat sich im letzten Jahrzehnt geändert. Die Veränderung begann mit Sigmund Freud in Wien, der eine Gesprächstherapie namens Psychoanalyse erfand, die es uns erlaubt, Patienten zu helfen, psychologische Probleme zu überwinden. Heute können wir solche Leiden wie extreme Angst oder hartnäckige Schwermut oder eine Krankheit behandeln, die wir Hysterie nennen – ein Leiden, bei dem ein Patient psychologisch bedingte, physische Symptome wie Lähmungen zeigt oder sogar blind ist. Meine Professoren in Zürich, Carl Gustav Jung und Eugen Bleuler, sind Pioniere auf diesem Gebiet. Ich bin von diesem Ansatz fasziniert und werde bald in Berlin bei Karl Abraham, einem hoch angesehenen Lehrer, eine weiterführende Ausbildung in der Psychoanalyse beginnen.«
»Über die Psychoanalyse habe ich schon dies und das gehört. Wie ich hörte, soll es sich um eine neue, jüdische Intrige handeln. Sind deine Lehrer denn alle Juden?«
»Jung und Bleuler bestimmt nicht.«
»Aber Friedrich, warum engagierst du dich auf einem jüdischen Fachgebiet?«
»Es wird so lange ein jüdisches Fachgebiet bleiben, solange wir Deutsche uns nicht einmischen. Oder, um es anders zu sagen: Es ist zu gut, um es allein den Juden zu überlassen.«
»Aber warum sich damit beschmutzen? Warum ein Student von Juden werden?«
»Es ist ein wissenschaftliches Gebiet. Hör zu, Alfred, nimm zum Beispiel einen anderen Wissenschaftler, den deutschen Juden Albert Einstein. Ganz Europa liegt ihm zu Füßen – sein Werk wird das Gesicht der Physik für immer verändern. Du kannst bei modernen Physikern nicht von jüdischen Physikern sprechen. Wissenschaft ist Wissenschaft. An der Uni war einer meiner Lehrer für Anatomie ein Schweizer Jude – er lehrte mich keine jüdische Anatomie. Und wäre der große William Harvey ein Jude, würdest du doch trotzdem an den Blutkreislauf glauben, richtig? Wäre Kepler ein Jude gewesen, würdest du doch trotzdem glauben, dass die Erde sich um die Sonne dreht, oder? Wissenschaft ist Wissenschaft, egal, wer der Entdecker ist.«
»Bei den Juden ist es anders«, warf Alfred ein. »Sie korrumpieren, sie reißen alles an sich, sie saugen alles aus. Nimm die Politik. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie jüdische Bolschewiken die ganze russische Regierung unterminiert haben. Ich habe die Fratze der Anarchie auf den Straßen Moskaus gesehen. Nimm das Bankwesen. Du hast die Rolle der Rothschilds in diesem Krieg erlebt: Sie ziehen die Strippen, und ganz Europa tanzt danach. Nimm das Theater. Sobald sie an die Macht kommen, dürfen da nur noch Juden arbeiten.«
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