»Ich erinnere mich noch sehr gut daran, und ich lerne bei Ihnen tatsächlich gleichgesinnte Gefährten kennen.«
»Zweifellos haben Sie bemerkt, dass einige der Kommentare Epikurs sehr gut zu Ihrem derzeitigen Dilemma mit Ihrer Gemeinde passen.«
»Ich habe mich schon gefragt, ob manche seiner Bemerkungen, wie diese, unbeschwert an den religiösen Zeremonien der Gemeinde teilzunehmen, auf mich abzielten.«
»So ist es. Und, haben sie ihr Ziel erreicht?«
»Beinahe, aber sie waren so von Widersprüchen belastet, dass sie nicht ins Schwarze trafen.«
»Wie das?«
»Ich kann mir für mich selbst nicht vorstellen, wie Gelassenheit aus dem Boden von Heuchelei sprießen sollte.«
»Sie spielen, wie ich annehme, auf Epikurs Rat an, alles Notwendige zu tun, um sich in eine Gemeinde einzufügen und folglich auch an öffentlichen Andachten teilzunehmen.«
»Ja, das nenne ich Heuchelei. Selbst Edward reagierte darauf. Wie kann innere Harmonie vorherrschen, wenn man sich selbst untreu ist?«
»Eigentlich wollte ich mich mit Ihnen hauptsächlich über Edward unterhalten. Was glauben Sie, wie er zu unserer Diskussion und zu Ihnen steht?«
Überrascht von dieser Frage, stutzte Bento. »Darauf habe ich keine Antwort.«
»Ich bitte um eine Vermutung.«
»Nun, er ist nicht glücklich mit mir. Er ist wütend, nehme ich an. Vielleicht fühlt er sich bedroht.«
»Ja, gut geraten. Höchst zutreffend, würde ich sagen. Und nun beantworten sie mir diese Frage: Ist es das, was Sie wollen?«
Bento schüttelte den Kopf.
»Und würde Epikur denken, dass Sie sich auf eine Art und Weise verhalten haben, die zum guten Leben hinführt?«
»Ich muss zugeben, dass er das nicht denken würde. In jenem Augenblick glaubte ich allerdings, dass ich klug daran tat, mich weiterer Äußerungen zu enthalten.«
»Welcher zum Beispiel?«
»Dass Gott uns nicht nach seinem Ebenbild geschaffen hat – wir haben ihn nach unserem Ebenbild geschaffen. Wir stellen uns vor, dass er ein Wesen ist wie wir, dass er unsere gemurmelten Gebete hört und dass es ihn interessiert, was wir uns wünschen …«
»Gütiger Gott! Wenn es das ist, was Sie fast ausgesprochen hätten, verstehe ich Ihren Standpunkt. Dann wollen wir sagen, dass Sie zwar unklug, aber nicht vollkommen töricht gehandelt haben. Edward ist strenger Katholik. Sein Onkel war katholischer Bischof. Von ihm zu erwarten, seinen Glauben auf der Grundlage von wenigen Bemerkungen abzulegen, auch wenn es vernünftige Bemerkungen sind, ist höchst irrational und vielleicht sogar gefährlich. Amsterdam genießt im Moment den Ruf, die toleranteste Stadt Europas zu sein. Aber denken Sie an die Bedeutung des Wortes ›tolerant‹ – es konnotiert, dass wir allen anderen Glaubensrichtungen gegenüber tolerant sind, auch wenn wir sie für irrational halten.«
»Ich komme immer mehr zu der Überzeugung«, sagte Bento, »dass jemand, der unter Menschen mit stark unterschiedlichen Glaubensrichtungen lebt, ihnen nur dann gerecht werden kann, wenn er sich selbst stark verändert.«
»Nun beginne ich, den Bericht meines Spions über den Aufruhr in der jüdischen Gemeinde über Sie zu verstehen. Erzählen Sie anderen Juden alle Ihre Gedanken?«
»Vor etwa einem Jahr beschloss ich, in meinen Meditationen immer wahrheitsgetreu …«
»Ah«, unterbrach van den Enden, »nun verstehe ich, weshalb Ihre Geschäfte so schlecht laufen. Ein Geschäftsmann, der die Wahrheit sagt, ist ein Oxymoron.«
Bento schüttelte den Kopf: »Oxymoron?«
»Aus dem Griechischen. Oxys bedeutet schlau; moros bedeutet töricht. Demnach bezieht sich Oxymoron auf ein Paradox in sich. Stellen Sie sich einmal vor, was ein wahrheitsliebender Kaufmann zu seinem Kunden sagen könnte: ›Bitte kaufen Sie diese Rosinen hier – Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun. Sie sind schon Jahre alt, verschrumpelt, und ich muss sie loswerden, bevor nächste Woche die Lieferung mit den saftigen Rosinen kommt.‹«
Als van den Enden nicht das geringste Anzeichen von Heiterkeit bei Bento entdeckte, dachte er an etwas, was er schon früher festgestellt hatte: Bento hatte keinerlei Sinn für Humor. Er ruderte zurück: »Aber ich wollte damit nicht die ernsten Dinge herunterspielen, die Sie mir erzählen.«
»Sie fragten mich nach meiner Diskretion innerhalb der Gemeinde. Abgesehen von meinem Bruder und diesen beiden Fremden aus Portugal, die bei mir Rat suchten, habe ich meine Ansichten immer für mich behalten. Die beiden traf ich übrigens erst vor wenigen Stunden und gab ihnen freimütig Auskunft über meine Ansichten zu abergläubischen Überzeugungen, um dem einen zu helfen, der vorgab, in einer spirituellen Krise zu stecken. Ich ließ mich mit den beiden Besuchern auf eine kritische Lesung der hebräischen Bibel ein. Seit ich mich ihnen gegenüber offenbart habe, weiß ich nun, was es ist, was Sie ›innere Harmonie‹ nannten.«
»Sie hören sich so an, als hätten Sie sich lange Zeit Stillschweigen verordnet.«
»Nicht konsequent genug in den Augen meiner Familie oder meines Rabbiners, der ausgesprochen verärgert über mich ist. Ich sehne mich nach einer Gemeinschaft, die sich nicht sklavisch an falsche Überzeugungen klammert.«
»Und auch wenn Sie auf der ganzen Welt danach suchen, werden Sie doch keine Gemeinschaft finden, die nicht abergläubisch ist. Solange es Unwissen gibt, solange wird es ein Festhalten am Aberglauben geben. Unwissen zu beseitigen ist die einzige Lösung. Das ist der Grund, weshalb ich unterrichte.«
»Ich fürchte, das ist ein verlorener Kampf«, antwortete Bento. »Unwissenheit und abergläubische Überzeugungen breiten sich wie Flächenbrände aus, und ich glaube, dass religiöse Führer dieses Feuer nähren, um ihre Stellung zu sichern.«
»Das sind gefährliche Worte, die Ihr jugendliches Alter Lügen strafen. Ich sage Ihnen noch einmal, dass Verschwiegenheit vonnöten ist, um in irgendeiner Gemeinschaft bleiben zu können.«
»Ich bin überzeugt davon, dass ich frei sein muss. Wenn eine solche Gemeinschaft sich nicht finden lässt, dann muss ich vielleicht ohne sie leben.«
»Erinnern Sie sich daran, was ich zu ›caute‹ sagte? Wenn Sie nicht auf der Hut sind, könnte es sein, dass Ihre Wünsche, aber vielleicht auch Ihre Ängste in Erfüllung gehen.«
»Diesen Status ›könnte‹ habe ich bereits überschritten. Ich glaube, dass ich den Stein bereits ins Rollen gebracht habe«, antwortete Bento.
Am Tag nach ihrem ersten Treffen behielt Alfred den Eingang des Bierkellers im Auge, und als er Friedrich entdeckte, sprang er auf, um ihn zu begrüßen. »Friedrich, schön, dich zu sehen. Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast.«
Sie holten sich ihr Bier am Tresen ab und setzten sich wieder an denselben ruhigen Ecktisch. Alfred hatte beschlossen, nicht wiederum im Mittelpunkt der gesamten Unterhaltung zu stehen, und begann: »Wie geht es dir und deiner Mutter?«
»Meine Mutter steht noch immer unter Schock. Sie versucht nach wie vor zu begreifen, dass mein Vater nicht mehr da ist. Zuweilen scheint sie zu vergessen, dass er tot ist. Zweimal glaubte sie, ihn in einer Menschenmenge draußen gesehen zu haben. Und die Realitätsverweigerung in ihren Träumen, Alfred, ist wirklich außergewöhnlich! Als sie heute Morgen aufwachte, sagte sie, es wäre schrecklich gewesen, die Augen zu öffnen: Sie war so glücklich gewesen, in ihrem Traum mit meinem Vater zusammen zu sein, dass es ihr widerstrebte, in einer Realität aufzuwachen, in der er noch immer tot war.
Was mich betrifft«, fuhr Friedrich fort, »so kämpfe ich genauso wie die deutschen Streitkräfte an zwei Fronten. Ich muss mich nicht nur mit der Tatsache seines Todes auseinandersetzen, sondern in der kurzen Zeit, in der ich hier bin, auch meine Mutter unterstützen. Und das ist verzwickt.«
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