Bento stand hinter dem Fenster und sah seinem Bruder nach, der zur Synagoge ging. Gabriel hat Recht: Ich füge denen Schaden zu, die mir am nächsten stehen. Meine Wahlmöglichkeiten sind grausam: Entweder muss ich mich zurücknehmen, mein eigenes Ich aufgeben und meiner Neugier Fesseln anlegen, oder ich muss denen Schaden zufügen, die mir am Nächsten stehen. Gabriels Erzählung über die Wut, die Bento beim Sabbatmahl entgegengeschlagen war, erinnerte ihn an van den Endens väterliche Warnung vor den zunehmenden Gefahren, die ihm von der jüdischen Gemeinde drohten. Fast eine halbe Stunde lang sann er über Fluchtszenarien aus dieser Falle nach, dann stand er auf, kleidete sich an, brühte sich einen Kaffee auf und ging mit der Tasse in der Hand durch die Hintertür in den Laden des Handelsgeschäfts der Spinozas.
Dort staubte er ab, fegte den Kehricht durch die Eingangstür auf die Straße und schüttete einen großen Sack duftender, getrockneter Feigen – eine frische Lieferung aus Spanien – in einen Behälter. Er setzte sich an seinen üblichen Platz am Fenster, schlürfte seinen Kaffee, bediente sich bei den Feigen und gab sich Tagträumen hin, die ihm durch den Kopf gingen. Seit kurzem praktizierte er eine Meditation, mittels derer er sich von seinem Gedankenfluss abkoppelte, sich seinen Geist als Theatersaal vorstellte und sich selbst als Zuschauer, der den Verlauf der Aufführung verfolgte. Augenblicklich tauchte Gabriels Gesicht mit seiner ganzen Traurigkeit und Verwirrung auf der Bühne auf, doch Bento hatte gelernt, den Vorhang fallen zu lassen und zum nächsten Akt überzugehen. Bald erschien van den Enden vor seinem geistigen Auge. Er lobte Bentos Fortschritte in Latein und drückte ihm dabei sanft und väterlich die Schulter. Diese Berührung – sie fühlte sich gut an. Aber wer wird mich nun jemals wieder berühren , dachte Bento, da Rebecca und nun auch Gabriel sich von mir abwenden ?
Dann sah Bento in Gedanken sich selbst beim Hebräischunterricht mit seinem Lehrer und mit Clara Maria. Er lächelte, als er mit seinen beiden Schülern wie mit Kindern das aleph, bet, gimmel paukte, und er lächelte noch mehr bei der Vorstellung, wie die kleine Clara Maria ihrerseits mit ihm das griechische alpha, beta, gamma paukte. Er sah das klare, fast strahlende Bild Clara Marias vor sich – Clara Maria, dieser dreizehnjährige Kobold mit dem krummen Rücken, diese Kindfrau, deren verschmitztes Lächeln ihre Anstrengungen Lügen strafte, sich als erwachsene, ernsthafte Lehrerin auszugeben. Ein flüchtiger Gedanke huschte vorüber: Ach, wäre sie nur älter .
Zur Mittagszeit wurde seine ausgedehnte Meditation durch eine Bewegung vor dem Fenster gestört. In der Ferne sah er Jacob und Franco, die, im Gespräch vertieft, auf seinen Laden zusteuerten. Bento hatte sich fest vorgenommen, ihnen zuvorkommend zu begegnen; er wusste, dass es sich nicht gehörte, andere verstohlen zu beobachten, und ganz besonders andere, die möglicherweise über ihn sprachen. Doch er konnte seine Augen nicht von der seltsamen Szene abwenden, die sich vor seinen Augen abspielte.
Franco trödelte drei oder vier Schritte hinter Jacob her, woraufhin Jacob sich umdrehte, ihn an der Hand packte und versuchte, ihn hinter sich herzuziehen. Franco machte sich los und schüttelte heftig den Kopf. Jacob antwortete, und nachdem er sich umgeblickt hatte, um sicher zu gehen, dass keine Augenzeugen zu sehen waren, legte er seine riesigen Pranken auf Francos Schultern, schüttelte ihn grob und stieß ihn vor sich her, bis sie den Laden erreicht hatten.
Gebannt von diesem Schauspiel, beugte Bento sich kurz vor, kehrte aber bald wieder zu seiner Meditation zurück und brütete über das Rätsel Franco und Jacob. Ein paar Minuten später wurde er aus seinen Träumereien gerissen, als die Tür zu seinem Laden aufging und er Schritte im Verkaufsraum vernahm.
Er sprang auf, begrüßte seine Besucher und zog zwei Stühle für sie heran. Er selbst setzte sich auf einen riesigen Sack Kaffeebohnen.
»Kommen Sie gerade vom Sabbat-Gottesdienst?«
»Ja«, sagte Jacob, »einer von uns erfrischt und der andere noch aufgewühlter als zuvor.«
»Interessant. Dasselbe Ereignis zeitigt zwei unterschiedliche Reaktionen. Und die Erklärung für dieses sonderbare Phänomen?«, fragte Bento.
Jacob beeilte sich mit einer Antwort. »Die Angelegenheit ist nicht so interessant, und die Erklärung liegt auf der Hand. Anders als Franco, der keine jüdische Erziehung genossen hat, bin ich mit den jüdischen Traditionen und der hebräischen Sprache bestens vertraut und …«
»Gestatten Sie mir, Sie zu unterbrechen«, sagte Bento. »Aber Ihre Erklärung bedarf schon im Ansatz einer Erklärung. Kein Kind, das in Portugal in einer Familie von Marranen aufwuchs, ist mit Hebräisch oder mit jüdischen Ritualen vertraut. Das galt auch für meinen Vater, der erst Hebräisch lernte, nachdem er Portugal verlassen hatte. Er erzählte mir, dass in seiner Kindheit in Portugal gegen jede Familie, die ihre Kinder in der hebräischen Sprache oder in den jüdischen Traditionen unterrichtet hätte, exemplarische Strafen verhängt wurden. Hörte ich übrigens nicht erst gestern von einem geliebten Vater«, und damit wandte Spinoza sich an Franco, »der sterben musste, weil die Inquisition eine vergrabene Thora fand?«
Franco, der sich nervös mit den Fingern durch die langen Haare fuhr, sagte nichts, nickte aber kaum merklich.
Bento wandte sich wieder Jacob zu und fuhr fort: »Deshalb meine Frage, Jacob: Woher haben Sie Ihre Kenntnisse des Hebräischen?«
»Vor drei Generationen konvertierte meine Familie zum neuchristlichen Glauben«, beeilte Jacob sich zu sagen, »doch sie blieben Kryptojuden und fest entschlossen, den Glauben am Leben zu erhalten. Als Jugendlicher von elf Jahren wurde ich von meinem Vater nach Rotterdam geschickt, wo ich in seinem Handelsunternehmen arbeitete, und die folgenden acht Jahre verbrachte ich jeden Abend damit, mit meinem Onkel, einem Rabbiner, Hebräisch zu studieren. Er bereitete mich auf die Bar Mitzwa in der Rotterdamer Synagoge vor und setzte anschließend meine jüdische Erziehung bis zu seinem Tode fort. Die letzten zwölf Jahre lebte ich hauptsächlich in Rotterdam und kehrte kürzlich nur deshalb nach Portugal zurück, um Franco zu retten.«
»Und Sie«, Bento wandte sich Franco zu, dessen Blick auf den schlecht gefegten Fußboden des Spinoza-Ladens geheftet war, »Sie können kein Hebräisch?«
Aber Jacob antwortete an seiner Stelle: »Natürlich nicht. Wie Sie selbst gerade sagten, ist Hebräisch in Portugal nicht erlaubt. Wir alle lernen die Heilige Schrift auf Latein zu lesen.«
»Sie können also kein Hebräisch, Franco?«
Abermals schaltete Jacob sich ein: »In Portugal wagt es niemand, Hebräisch zu unterrichten. Er müsste nicht nur selbst mit seiner sofortigen Hinrichtung rechnen, sondern die Häscher würden auch auf seine ganze Familie Jagd machen. Während wir hier sitzen und miteinander sprechen, halten sich Francos Mutter und zwei seiner Schwestern in einem Versteck auf.«
»Franco …«, Bento beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen, »Jacob antwortet immer an Ihrer Stelle. Warum wollen Sie nicht selbst antworten?«
»Er versucht nur, mir zu helfen«, flüsterte Franco.
»Und Ihnen ist geholfen, wenn Sie selbst schweigen?«
»Ich bin zu aufgewühlt, um meinen Worten trauen zu können«, sagte Franco lauter. »Jacob sagt die Wahrheit. Meine Familie ist in Gefahr, und wie er sagt, habe ich abgesehen vom aleph, bet, gimmel , das er mich lehrte, keine jüdische Ausbildung genossen. Er schrieb die Buchstaben immer in den Sand. Und selbst diese musste er anschließend mit den Füßen sorgfältig verwischen.«
Bento drehte seinen Körper vollends zu Franco und damit bewusst von Jacob fort: »Sind Sie auch der Ansicht, dass der Gottesdienst Sie aufgewühlt hat, während Jacob sich danach erfrischt fühlte?«
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