Nach einem Nicken von Gabriel fuhr Spinoza fort: »Deshalb wandte ich mich vor drei Monaten an das holländische Gericht, weil ich größeres Vertrauen zu ihm habe. Zum einen hat der Name Duarte Rodriguez vor diesem Gericht keine Bedeutung. Und die holländische Gesetzgebung will, dass das Oberhaupt der Familie fünfundzwanzig und nicht vierundzwanzig Jahre alt sein muss, um die Verantwortung für eine solche Schuld übernehmen zu können. Da ich noch keine fünfundzwanzig bin, könnte unsere Familie verschont werden. Wir brauchen die Vermögensschulden unseres Vaters nicht anzuerkennen, und wir können das Geld bekommen, das unsere Mutter uns zugesprochen hat. Und mit uns meine ich Rebecca und dich – ich beabsichtige, dir meinen Anteil zu übertragen. Ich habe keine Familie und brauche das Geld nicht.
Und noch ein Letztes«, fuhr er fort. »Die Wahl des Zeitpunkts. Da mein fünfundzwanzigster Geburtstag vor deiner Heirat liegt, musste ich jetzt handeln. Nun, sag mir, siehst du nicht ein, dass ich für die Familie durchaus verantwortungsvoll handle? Legst du keinen Wert auf Freiheit? Wenn ich nicht zur Tat schreite, werden wir unser ganzes Leben in Knechtschaft verbringen. Willst du das?«
»Ich ziehe es vor, die Angelegenheit in der Hand Gottes zu belassen. Du hast kein Recht, die Gesetze unserer religiösen Gemeinschaft anzuzweifeln. Und was die Knechtschaft betrifft, so ziehe ich sie der Ächtung vor. Abgesehen davon sprach Sarahs Vater nicht nur von diesem Rechtsstreit. Möchtest du hören, was er außerdem sagte?«
»Ich denke, dass du es mir erzählen möchtest.«
»Er sagte, dass das ›Spinoza-Problem‹, wie er es nennt, viele Jahre zurückverfolgt werden kann, bis zurück zu deiner Unverfrorenheit bei der Vorbereitung deiner Bar Mitzwa . Er erinnerte sich, dass Rabbi Mortera dich vor allen anderen Schülern bevorzugte. Dass er in dir seinen möglichen Nachfolger sah. Und dann nanntest du die biblische Geschichte von Adam und Eva eine ›Fabel‹. Als der Rabbi dich dafür tadelte, dass du Gottes Wort leugnetest, hättest du ihm geantwortet: ›Die Thora ist wirr, denn falls Adam der erste Mensch gewesen ist, wen genau hat dann Kain, sein Sohn, geheiratet?‹ Hast du das gesagt, Bento? Stimmt es, dass du die Thora als ›wirr‹ bezeichnet hast?«
»Es stimmt, dass die Thora Adam als den ersten Menschen nennt. Und es stimmt, dass darin steht, dass sein Sohn Kain geheiratet hat. Dann haben wir doch bestimmt das Recht, die offensichtliche Frage zu stellen: Wenn Adam der erste Mensch war, wie konnte es da jemanden für Kain zum Heiraten gegeben haben? Diese Frage – sie wird auch die ›prä-adamische Frage‹ genannt – wird seit über tausend Jahren in der Bibelforschung diskutiert. Wenn du mich also fragst, ob es eine Fabel ist, ist meine Antwort: Ja – ganz offensichtlich ist die Geschichte nur eine Metapher.«
»Du sagst das, weil du sie nicht verstehst. Übertrifft deine Weisheit etwa die von Gott? Weißt du nicht, dass es Gründe gibt, weshalb wir unwissend sein müssen, und dass wir es unseren Rabbinern überlassen müssen, die Schriften zu interpretieren und klarzustellen?«
»Diese Einstellung kommt den Rabbinern wunderbar gelegen, Gabriel. Männer der Kirche trachten seit Urzeiten danach, die einzigen legitimen Deuter von Mysterien zu sein. Das kommt ihnen sehr zupass.«
»Saras Vater sagte, dass diese Anmaßung, die Bibel und unsere religiösen Führer in Frage zu stellen, nicht nur für die Juden beleidigend und gefährlich ist, sondern auch für die christliche Gemeinde. Die Bibel ist auch ihnen heilig.«
»Gabriel, du bist der Meinung, dass wir die Logik verlassen sollten, dass wir unser Recht nachzufragen aufgeben sollten?«
»Über dein persönliches Recht auf Logik und dein Recht, das rabbinische Gesetz in Frage zu stellen, streite ich mich nicht. Ich stelle nicht dein Recht in Frage, die Heiligkeit der Bibel anzuzweifeln. Tatsächlich stelle ich nicht einmal dein Recht in Frage, Gott zu zürnen. Das ist deine Angelegenheit. Vielleicht ist es deine Krankheit. Aber du verletzt mich und deine Schwester mit deiner Weigerung, deine Ansichten für dich zu behalten.«
»Gabriel, dieses Gespräch mit Rabbi Mortera über Adam und Eva fand vor über zehn Jahren statt. Seitdem habe ich meine Ansichten für mich behalten. Aber vor zwei Jahren schwor ich mir, ein gottgefälliges Leben zu führen, was auch bedeutet, niemals mehr zu lügen. Und deshalb werde ich, falls mich jemand nach meiner Meinung fragt, wahrheitsgemäß antworten – und das ist der Grund, weshalb ich es abgelehnt habe, am Abendessen mit Saras Vater teilzunehmen. Aber vor allem anderen, Gabriel, denk daran, dass wir zwei unterschiedliche Menschen sind. Andere hier verwechseln dich nicht mit mir. Sie machen dich nicht für die Verirrungen deines älteren Bruders verantwortlich.«
Gabriel verließ kopfschüttelnd das Zimmer und murmelte: »Mein älterer Bruder redet wie ein Kind.«
Drei Tage später ersuchte ein blasser und hektischer Alfred um eine Unterredung mit Herrn Schäfer.
»Ich habe ein Problem, Herr Professor«, begann Alfred, öffnete seine Schultasche und entnahm ihr Goethes siebenhundertseitige Autobiographie. Zwischen den Blättern ragten mehrere ausgefranste Papierstreifen heraus. Er schlug die erste markierte Stelle auf und deutete auf den Text.
»Herr Professor, Goethe erwähnt Spinoza hier in dieser Zeile. Und dann wieder hier, ein paar Zeilen weiter unten. Aber dann kommen mehrere Absätze, in denen der Name nicht aufscheint, und ich komme einfach nicht dahinter, ob es darin um ihn geht oder nicht. Eigentlich verstehe ich fast nichts davon. Es ist sehr mühsam.« Er blätterte weiter und zeigte auf einen weiteren Abschnitt: »Hier ist es das Gleiche. Er erwähnt Spinoza zwei oder drei Mal, dann kommen vier Seiten, ohne dass er erwähnt wird. Soweit ich es beurteilen kann, ist es nicht klar ersichtlich, ob er über Spinoza spricht oder nicht. Er spricht auch über jemanden namens Jacobi. Und das kommt noch an vier anderen Stellen vor. Ich habe den Faust verstanden, als wir ihn in Ihrem Unterricht durchnahmen, und ich habe Die Leiden des jungen Werther verstanden, aber hier in diesem Buch verstehe ich Seite um Seite rein gar nichts.«
»Chamberlain zu lesen ist da schon viel einfacher, was?« Augenblicklich bedauerte Herr Schäfer seinen Sarkasmus und beeilte sich, mit freundlicherer Stimme hinzuzufügen: »Mir ist bewusst, dass du vielleicht nicht den ganzen Text von Goethe begreifst, Rosenberg, aber du musst dir klarmachen, dass das hier kein straff organisiertes Werk ist, sondern eine Abfolge von Betrachtungen über sein Leben. Hast du jemals ein Tagebuch geführt oder über dein eigenes Leben geschrieben?«
Alfred nickte. »Vor ein paar Jahren, aber nur ein paar Monate lang.«
»Nun, dann betrachte es als so etwas wie ein Tagebuch. Goethe hat es gleichermaßen für sich selbst geschrieben wie auch für den Leser. Glaube mir, wenn du älter bist und Goethes Gedankenwelt besser kennst, wirst du seine Texte besser verstehen und würdigen können. Gib mir das Buch.«
Nachdem er die Seiten überflogen hatte, die Alfred markiert hatte, sagte Herr Schäfer: »Ich verstehe das Problem. Du schneidest eine legitime Frage an, und ich muss die Aufgabe überdenken. Gehen wir diese beiden Kapitel gemeinsam durch.« Herr Schäfer und Alfred steckten die Köpfe zusammen und brüteten lange über dem Text. Herr Schäfer notierte verschiedene Seitenzahlen und Zeilennummern auf einem Notizblock.
Er gab Alfred den Notizblock und sagte: »Das hier musst du abschreiben. Denke daran: drei Exemplare, leserlich geschrieben. Aber es gibt ein Problem: Das hier sind nur zwanzig oder fünfundzwanzig Zeilen, eine so viel kürzere Aufgabe, als der Herr Direktor ursprünglich vorgesehen hatte, und ich bezweifle, dass er sich damit begnügen wird. Du musst also zusätzlich etwas tun – lerne diese gekürzte Fassung auswendig und trage sie bei unserem Gespräch mit Direktor Epstein vor. Ich glaube, damit wird er sich zufrieden geben.«
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