Als Herr Schäfer daraufhin Alfreds finsteren Blick registrierte, setzte er hinzu: »Alfred, auch wenn es mir nicht gefällt, dass du dich so verändert hast – damit meine ich diesen Unsinn mit der Überlegenheit der Rasse –, stehe ich nach wie vor auf deiner Seite. Die vergangenen vier Jahre warst du immer ein guter und gehorsamer Schüler, auch wenn du – und das habe ich dir oft gesagt – durchaus fleißiger hättest sein können. Es wäre eine Tragödie, wenn du deine Chancen für die Zukunft verspielen und ohne Abschluss von der Schule gehen würdest.« Er ließ Alfred Zeit, die Worte zu verdauen. »Lege dein ganzes Herzblut in diese Aufgabe. Herr Direktor Epstein wird mehr erwarten, als nur Abschriften und auswendig gelernten Text. Er wird von dir erwarten, dass du die Lektüre verstanden hast. Also streng dich an, Rosenberg. Was mich betrifft, so möchte ich wirklich, dass du den Abschluss machst.«
»Und wollen Sie noch immer mein Exemplar haben, bevor ich die anderen zwei Abschriften mache?«
Herr Schäfer spürte einen Stich in der Brust, als er Alfreds mechanische Antwort hörte, sagte aber nur: »Wenn du meine Anweisungen auf dem Notizblock befolgst, wird das nicht nötig sein.«
Alfred ging davon, aber Herr Schäfer rief ihn noch einmal zurück: »Rosenberg, gerade eben versuchte ich, dir die Hand zu reichen. Ich sagte, du seist ein guter Schüler und ich würde mir wünschen, dass du den Abschluss machst. Hast du darauf keine Antwort? Immerhin bin ich seit vier Jahren dein Lehrer.«
»Ja, Herr Professor.«
»Ja, Herr Professor?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Schon gut, Alfred, du kannst gehen.«
Herr Schäfer packte seine Aktentasche mit den Hausaufgaben seiner Schüler, die er noch durchlesen musste, verbannte Alfred aus seinen Gedanken und dachte stattdessen an seine beiden Kinder, seine Frau und an die Spätzle mit Blutwurst, die sie ihm zum Abendessen versprochen hatte.
Verwirrt über die Aufgabenstellung ging Alfred davon: Hatte er seine Situation verschlimmert? Oder hatte er eine Verschnaufpause bekommen? Schließlich war Auswendiglernen kein Problem für ihn. Er merkte sich gerne Textpassagen für Theateraufführungen an der Schule und für Vorträge.
Zwei Wochen später stand Alfred an einem Ende des langen Tisches von Direktor Epstein, der ihm an diesem Tag noch größer und strenger erschien als je zuvor. Alfred wartete auf Anweisungen. Herr Schäfer war deutlich kleiner und gab Alfred mit ernster Miene ein Zeichen, mit seinem Vortrag zu beginnen. Nachdem er einen letzten Blick auf sein Exemplar mit Goethes Text geworfen hatte, stand er auf, nannte den Titel »Aus der Autobiographie von Goethe« und begann:
»›Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluss haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die ‚Ethik‘ dieses Mannes. Hier fand ich eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun.‹«
»Nun, Rosenberg«, unterbrach ihn der Direktor, »was ist es, was Goethe bei Spinoza fand?«
»Äh, war es seine Ethik?«
»Nein, nein. Du lieber Gott, hast du nicht verstanden, dass Ethik der Name von Spinozas Buch ist? Was sagt Goethe, was er von Spinozas Buch bekommen hat? Was, glaubst du, meint er mit ›eine Beruhigung meiner Leidenschaften‹?«
»Etwas, was ihn beruhigt hat?«
»Ja, das ist es zum Teil. Aber fahre fort: Dieser Gedanke wird sehr bald abermals auftauchen.«
Alfred wiederholte die letzte Passage im Kopf, um den Faden wiederzufinden, und begann:
»›Was mich aber besonders an ihm fesselte, war die grenzenlose Eigennützigkeit, die aus jedem Satze hervor …‹«
»Uneigennützigkeit, nicht Eigennützigkeit«, bellte Direktor Epstein, der den Vortrag Wort für Wort in den Aufzeichnungen verfolgte. »Uneigennützigkeit bedeutet, nicht emotional gebunden zu sein.«
Alfred nickte und fuhr fort:
»›Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: ‚Wer Gott recht liebt, muss nicht verlangen, dass Gott ihn wieder liebe‘, mit allen den Vordersätzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfüllte mein ganzes Nachdenken .‹ «
»Das ist eine schwierige Passage«, sagte der Direktor. »Ich will es dir erklären. Goethe sagt, dass Spinoza ihn lehrte, seinen Geist vom Einfluss anderer zu befreien, seine eigenen Gefühle und seine eigenen Schlüsse zu finden und dann danach zu handeln. Mit anderen Worten: Lass deine Liebe fließen und lass sie nicht von der Vorstellung der Liebe, die du vielleicht zurückbekommst, beeinflussen. Genau diesen Gedanken könnten wir auch auf Wahlreden anwenden. Goethe würde keine Rede auf der Grundlage der Bewunderung halten, die er von anderen erfährt. Und er würde auch nicht das sagen, was andere von ihm erwarten. Verstehst du? Hast du verstanden, worum es hier geht?«
Alfred nickte. Was er wirklich verstand, war, dass Direktor Epstein ihm eine tiefe Verachtung entgegenbrachte. Er wartete, bis der Direktor ihm bedeutete fortzufahren:
»›Übrigens möge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande.‹«
»Weißt du, was er hier mit den verschiedensten Wesen meint, Rosenberg?«, fragte Direktor Epstein.
»Ich glaube, dass er Geist und Herz meint, oder?«
»Genau. Und was davon ist Goethe und was Spinoza?«
Alfred machte ein verwirrtes Gesicht.
»Das hier ist nicht nur eine Übung für deine Merkfähigkeit, Rosenberg! Ich möchte, dass du diesen Text verstehst. Goethe ist ein Dichter. Was ist er also? Geist oder Herz?«
»Er ist Herz. Aber er hatte auch einen großen Geist.«
»Ach so. Jetzt verstehe ich deine Verwirrung. Aber hier sagt er, dass Spinoza ihm ein inneres Gleichgewicht gibt, das es ihm erlaubt, seine Leidenschaft und seine übersprühende Vorstellungskraft mit der nötigen Ruhe und Vernunft in Einklang zu bringen. Und deshalb sagt Goethe, dass er der ›entschiedenste Verehrer‹ Spinozas ist. Verstehst du?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Nun fahre fort.«
Alfred zögerte. Sein Blick verriet einen Anflug von Panik. »Ich habe den Faden verloren. Ich weiß nicht mehr genau, wo ich stehengeblieben bin.«
»Du machst das gut«, warf Herr Schäfer ein, der ihn zu beruhigen versuchte. »Wir wissen, dass es schwierig ist, mit so vielen Unterbrechungen auswendig vorzutragen. Du darfst deine Aufzeichnungen zu Rate ziehen, um dich zu orientieren.«
Alfred holte tief Luft, überflog kurz sein Manuskript und fuhr fort:
»›Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist und seine Meinungen als höchst verwerflich angegeben, sodann aber zugestanden, daß er ein ruhig nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein guter Staatsbürger, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen; und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! – Denn wie will doch ein Menschen und Gott gefälliges Leben aus verderblichen Grundsätzen entspringen?
Читать дальше