Ich erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.‹«
Alfred atmete hörbar aus, nachdem er die letzte Zeile beendet hatte. Der Direktor bedeutete ihm, Platz zu nehmen, und bemerkte: »Dein Vortrag war zufriedenstellend. Du hast eine gute Merkfähigkeit. Nun wollen wir dein Verständnis dieser letzten Passage prüfen. Sag mir, glaubt Goethe, Spinoza sei ein Atheist?«
Alfred schüttelte den Kopf.
»Ich höre keine Antwort.«
»Nein, Herr Direktor.« Alfred sprach laut. »Goethe glaubte nicht, dass er ein Atheist war. Aber andere hielten ihn für einen.«
»Und weshalb stimmte Goethe ihnen nicht zu?«
»Wegen seiner Ethik?«
»Nein, nein. Hast du schon wieder vergessen, dass Ethik der Name von Spinozas Buch ist? Noch einmal: Warum widersprach Goethe der Meinung der Spinoza-Kritiker?«
Alfred zitterte und blieb stumm.
»Du lieber Himmel, Rosenberg, schau in deine Aufzeichnungen«, stöhnte der Direktor.
Alfred überflog den letzten Absatz und spekulierte: »Weil er gut war und ein gottgefälliges Leben führte?«
»Ganz genau. Mit anderen Worten: Es kommt nicht darauf an, was man glaubt oder sagt, was man glaubt. Wie man lebt, darauf kommt es an. Nun, Rosenberg, eine letzte Frage zu dieser Passage. Sag uns noch einmal: Was bekam Goethe von Spinoza?«
»Er sagte, er bekam ein Gefühl von Frieden und Beruhigung. Er sagt auch, dass er die Welt niemals so deutlich erblickt hätte. Das waren die beiden wichtigsten Sachen.«
»Genau. Wir wissen, dass der große Goethe ein Exemplar der Ethik von Spinoza ein Jahr lang ständig bei sich trug. Stell dir das vor – ein ganzes Jahr lang! Und nicht nur Goethe, sondern auch andere große Deutsche. Lessing und Heine berichteten von der Klarheit und Ruhe, die aus diesem Buch sprachen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja einmal eine Zeit in deinem Leben, wo auch du die Ruhe und Klarheit brauchst, die Spinozas Ethik vermittelt. Ich fordere dich nicht auf, das Buch jetzt zu lesen. Du bist zu jung, um seine Bedeutung zu begreifen. Aber ich möchte, dass du mir versprichst, es vor deinem einundzwanzigsten Geburtstag zu lesen. Oder vielleicht sollte ich sagen: Lies es, sobald du erwachsen bist. Habe ich dein Wort als guter Deutscher?«
»Ja, Herr Direktor, Sie haben mein Wort.« Alfred hätte ihm auch versprochen, die gesamte Enzyklopädie auf Chinesisch zu studieren, nur damit diese Inquisition endlich ein Ende hatte.
»Und nun wollen wir zum Kern deiner Aufgabe kommen. Ist dir bewusst, weshalb wir dir diese Leseaufgabe gegeben haben?«
»Äh, nein, Herr Direktor. Ich dachte, es wäre nur deshalb, weil ich sagte, ich würde Goethe am meisten von allen bewundern.«
»Teilweise stimmt das natürlich. Aber du hast bestimmt verstanden, worauf meine Frage wirklich abzielte?«
Alfred machte ein verständnisloses Gesicht.
»Ich frage dich: Was bedeutet es dir, dass der Mann, den du am meisten von allen bewunderst, einen Juden zu dem Mann wählt, den er am meisten von allen bewundert?«
»Einen Juden?«
»Wusstest du nicht, dass Spinoza Jude war?«
Schweigen.
»Du hast in den vergangenen Wochen nichts über ihn herausgefunden?«
»Herr Direktor, ich weiß nichts über diesen Spinoza. Das gehörte nicht zu meiner Aufgabe.«
»Und deshalb hast du gottlob den gefürchteten Schritt vermieden, etwas Zusätzliches zu lernen? Ist es so, Rosenberg?«
»Lass es mich anders ausdrücken«, warf Herr Schäfer ein. »Denk an Goethe. Was hätte er wohl in dieser Situation gemacht? Hätte jemand von Goethe verlangt, die Autobiographie eines ihm Unbekannten zu lesen, was hätte Goethe wohl getan?«
»Er hätte sich über diese Person informiert.«
»Ganz genau. Das ist wichtig. Wenn du jemanden bewunderst, eifere ihm nach. Lass dich von ihm führen.«
»Danke, Herr Professor.«
»Lass uns dennoch mit meiner Frage fortfahren«, sagte Direktor Epstein. »Wie erklärst du Goethes grenzenlose Bewunderung und Dankbarkeit einem Juden gegenüber?«
»Wusste Goethe, dass er Jude war?«
»Gütiger Gott. Natürlich wusste er es.«
»Aber Rosenberg«, sagte Herr Schäfer, der nun ebenfalls ungeduldig wurde, »denk über deine Frage nach. Was macht es für einen Unterschied, ob er wusste, dass Spinoza Jude war? Wieso stellst du diese Frage überhaupt? Glaubst du, ein Mann von Goethes Format – du selbst hast ihn als das größte Genie aller Zeiten bezeichnet – würde große Ideen nicht unabhängig von ihrer Quelle mit offenen Armen empfangen?«
Alfred schwirrte der Kopf. Noch nie war er so mit Fragen bombardiert worden. Aber Direktor Epstein, der eine Hand auf Herrn Schäfers Arm legte, zeigte kein Erbarmen.
»Meine hauptsächliche Frage an dich ist immer noch nicht beantwortet: Wie erklärst du dir, dass die Gedanken eines Angehörigen einer minderwertigen Rasse für das größte deutsche Genie aller Zeiten so hilfreich waren?«
»Vielleicht ist es so wie bei Herrn Dr. Apfelbaum. Vielleicht kann es durch Mutation einen guten Juden geben, auch wenn die Rasse an sich verdorben und minderwertig ist.«
»Das ist keine akzeptable Antwort«, sagte der Direktor. »Es ist eine Sache, über einen Arzt zu sprechen, der freundlich ist und seinen gewählten Beruf tadellos ausübt. Aber etwas ganz anderes ist es, so von einem Genie zu sprechen, das vielleicht den Lauf der Geschichte verändert hat. Und es gibt viele andere Juden, deren Genialität bestens bekannt ist. Denke an sie. Ich darf dich an die erinnern, die du selbst kennst, von denen du aber vielleicht nicht wusstest, dass es Juden waren. Herr Schäfer sagt mir, dass du im Unterricht die Gedichte von Heinrich Heine aufgesagt hast. Und er sagt mir auch, dass du Musik magst. Ich kann mir also vorstellen, dass du dir die Musik von Gustav Mahler und Felix Mendelssohn angehört hast. Richtig?«
»Das sind alles Juden, Herr Direktor?«
»Ja, und du weißt bestimmt, dass Disraeli, der große Premierminister von England, ein Jude war?«
»Das wusste ich nicht, Herr Direktor.«
»Ja. Und im Augenblick wird in Riga die Oper Hoffmanns Erzählungen aufgeführt, die Jakob Offenbach komponiert hat, ein weiterer Mann, der als Jude geboren wurde. So viele Genies. Was ist deine Erklärung dafür?«
»Ich kann die Frage nicht beantworten. Ich muss darüber nachdenken. Darf ich bitte gehen, Herr Direktor? Ich fühle mich nicht gut. Ich verspreche, dass ich darüber nachdenken werde.«
»Ja, du darfst gehen«, sagte der Direktor. »Und ich wünsche mir in deinem eigenen Interesse wirklich sehr, dass du nachdenkst. Denken ist gut. Denk über unser heutiges Gespräch nach. Denk über Goethe und den Juden Spinoza nach.«
Nachdem Alfred gegangen war, sahen sich Direktor Epstein und Herr Schäfer kurz an, bevor der Direktor das Wort ergriff. »Er sagt, er wird darüber nachdenken, Hermann. Wie stehen die Chancen, dass er das tun wird?«
»Nahe null, würde ich sagen«, meinte Herr Schäfer. »Lassen wir ihn den Abschluss machen, und dann sind wir ihn los. Ihm fehlt es an Neugier, was aller Wahrscheinlichkeit nach unheilbar ist. Wo immer wir seinen Geist anbohren, werden wir auf einen soliden Granit unbegründeter Überzeugungen treffen.«
»Du hast Recht. Ich habe keinen Zweifel, dass er Goethe und Spinoza schon jetzt, während wir hier sprechen, eiligst aus seinen Gedanken verbannt und dass sie ihn nie wieder beschäftigen werden. Gleichwohl bin ich erleichtert über das, was gerade geschehen ist. Meine Befürchtungen sind ausgeräumt. Dieser junge Mann hat weder die Intelligenz noch die seelische Kraft, andere auf seine Gedankenwelt einzuschwören und damit Unheil anzurichten.«
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