Ja, überlegte Hannibal, es ist sinnlos, das Schicksal noch einmal herauszufordern. Mein Vater Hamilkar hat das als erster erkannt. Er drehte dem Meer den Rücken und versuchte sein Glück an Land. Da Karthago keine Flotte mehr besaß, führte er den Krieg gegen Iberien auf festem Boden. Er schuf das aus vielen Völkerstämmen bestehende Heer und befahl mir, ebenfalls einen Landkrieg zu führen. Es ist doch seltsam! Damals wurden die besten Seeleute der Welt von Landratten besiegt, die noch nie ein Ruder in der Hand gehalten hatten, und jetzt besiegen Seeleute an Land die als unbesiegbar geltenden römischen Landtruppen. Ja, mein Vater hatte recht. Die Meeresgötter haben Karthago verraten und besitzen jetzt neue Günstlinge. Dennoch ist noch nichts verloren. Es gibt noch die Götter der Berge, der Wälder und Steppen. Mit ihrer Hilfe werden wir den Sieg erringen!
Das waren Hannibals Gedanken, während er in Betrachtung des Meeres versunken war.
Die erschöpften Krieger warfen sich am Strand hin und streckten erleichtert die wunden Füße aus. Dumpf brandeten die Wellen gegen die Ufersteine, die manchmal unter dem Wasser verschwanden und dann wieder mit glänzend schwarzem Buckel zum Vorschein kamen. Die Krieger fühlten sich im frischen Seewind wohl. Sie dachten nicht darüber nach, aus welchem Grunde das Meer Karthago verraten hatte.
Der Baleare Tirnes betastete den Ledergürtel, in den er seine Ersparnisse eingenäht hatte - zwanzig Silbermünzen, die wegen des galoppierenden Pferdes, das darin eingeprägt war, Renner genannt wurden. Noch zehn Renner! dachte er, dann kann ich einen Bauernhof erwerben. Es würde auch nicht schaden, ein paar Sklaven zu kaufen. Während sie den Acker pflügen, könnte ich mit meinem Vater auf die Ziegenjagd gehen.
Die Gallier aus Dukarions Abteilung grölten ein Lied. Sie hatten bereits die Keller des naheliegenden Dorfes durchsucht und dort so viel Wein gefunden, wie sie in einem Jahre nicht austrinken konnten.
„Warum soll der Wein umkommen!" lachte Dukarion. „Rollt die Fässer an den Strand. Wir wollen die Pferde in Wein baden."
Der Vorschlag wurde mit Freudengebrüll begrüßt.
Die Afrikaner luden auf Hannibals Befehl die am Trasimenischen See erbeuteten Waffen von den Fuhrwerken. Er musterte sie und stellte fest, daß sie den karthagischen Waffen überlegen waren. Das spitze römische Eisenschwert war wegen seiner Kürze handlicher im Nahkampf. Schade, daß die gefährlichen römischen Wurflanzen nicht gegen die Römer zu gebrauchen waren, denn die lange dünne Lanzenspitze würde sich beim Aufprall auf die Schilde und Rüstungen verbiegen. Der römische Schild war etwas ungefüge, schützte jedoch den ganzen Körper. Er war mit Leinen und Kalbfell bezogen und mit Blechstreifen beschlagen, die die Schwerthiebe abhielten. Gut waren auch die aus Blechbändern bestehenden römischen Rüstungen.
Am Strand wurden die Waffen zu Haufen aufgetürmt. Es waren so viele, daß sie für das ganze Heer ausgereicht hätten. Aber Hannibal ließ nur den Afrikanern, seinen erfahrensten, treuesten Kriegern, einige davon aushändigen. Die übrigen wurden ins Meer geworfen, um sie für den Feind unbrauchbar zu machen.
Dann besichtigte er mit seinem Gefolge die in einer Bucht vor Anker liegenden kleinen Schiffe. Er schritt ein Deck ab, prüfte die Takelage und die Ruder und stieg in den engen Laderaum hinab, der höchstens zehn Faß Süßwasser und zwei Dutzend Ledersäcke mit Mehl faßte. Mit einem dieser Schiffe würde Magon nach Karthago segeln. Er sollte dort und auch in Iberien melden, daß sich Hannibal mit dem Heer am Ufer der Adria befände und Verstärkung brauchte. Denn sonst würde er nicht in der Lage sein, den Römern die entscheidende Niederlage beizubringen.
Ja, sagte sich Hannibal seufzend, ich brauche unbedingt noch mehr numidische Reiter und Pferde. Falls Gula keine mehr hat, wird Syphax sie mir vielleicht zur Verfügung stellen, denn es ist durchaus möglich, daß er nun, nach der Schlacht am Trasimenischen See, seinen Sinn geändert hat und begreift, daß von den Römern nichts mehr zu erwarten ist.
Publius nahm wieder einmal Abschied von Rom. In wenigen Tagen würde er in die Legion des Diktators Fabius eintreten. Das hatte der Vater vor seiner Abreise nach Iberien bestimmt. Aber bis dahin streifte Publius noch durch die Stadt.
Auf einem seiner Streifzüge kam Publius auch ins Theater, wo nach dem Willen des Diktators Wettspiele auf dem Gebiet der Schauspielkunst stattfanden. Es lag am Palatinischen Hügel. Zu dieser Zeit besaß Rom noch kein ständiges Theatergebäude mit Bühne, Orchester und Zuschauerplätzen. Am Fuße des Hügels war nur ein überdachtes Holzpodium errichtet, und auf dem Hang, der sich davor erhob, versammelten sich die Zuschauer - die Senatoren stehend, weil sie ihre schneeweißen Togen nicht beschmutzen wollten, die Plebejer auf Matten sitzend, die sie sich von daheim mitgebracht hatten.
Es wurde das Stück „Achilles" von Livius Andronicus aufgeführt. Es war eine lateinische Übersetzung der „Ilias" von Homer, jenes unsterblichen Versepos über den trojanischen Krieg, der zwischen den Griechen und Trojanern entbrannte, weil der trojanische Prinz Paris die wunderschöne Helena, die Gemahlin des griechischen Königs Menelaos, geraubt hatte. Dieser Krieg dauerte zehn lange Jahre. Er wurde auf beiden Seiten mit Tapferkeit geführt, aber er brachte beiden Völkern Tod und Jammer und endete mit der vollständigen Zerstörung Trojas.
Allerdings war die lateinische Fassung des Werkes so weit vom griechischen Original entfernt wie die Erde vom Himmel. Um den Römern zu schmeicheln, die sich für die Nachkommen der Trojaner hielten, hatte Livius Andronicus im Gegensatz zu Homer den trojanischen Königssohn Hektor mit weit mehr Körperkraft ausgestattet als den griechischen Helden Achilles, und als die beiden ihren berühmten Zweikampf ausfochten, ließ er Achilles - auch im Gegensatz zu Homer - vor Hektor Reißaus nehmen, so daß dieser den edlen Griechen vielleicht sogar umgebracht hätte, wäre nicht eine jugendliche Gestalt vom Holzdach der Bühne herabgeschwebt, die dem trojanischen Helden von oben auf den Kopf schlug. Bei dieser Gestalt handelte es sich um Hera, die Gemahlin des Götterkönigs Zeus, die, wie alle Frauen im römischen Theater, von einem Mann dargestellt wurde. Die Zuschauer bekundeten jedoch keine übermäßig große Achtung vor der Göttin, denn sie bewarfen sie mit den Resten der Äpfel und Fladen, die sie sich vorsorglich mitgebracht hatten, weil die Theatervorstellungen vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang dauerten.
Als Publius hinter sich Stimmen hörte, drehte er sich um. Ein etwa vierzigjähriger Mann kam den Hügel herabgehinkt. Er war schmutzig und offenbar seit Wochen nicht mehr rasiert. Fast konnte man annehmen, daß er in Trauer war, weil sich die Römer dann nicht zu rasieren pflegten, aber er machte ein ausgesprochen fröhliches Gesicht. Als er näher kam, sprangen viele Plebejer von ihren Plätzen und grüßten ihn lärmend.
„Gnaeus Naevius! Sei gegrüßt! Setz dich zu uns!"
„Ich danke euch, Freunde!" Gnaeus Naevius legte die Hand aufs Herz. „Verzeiht mein Aussehen. Aber im Gefängnis erhält man kein Rasiermesser. Als Schreibstift konnte ich meine Phantasie benutzen und als Papyrusrolle mein Gedächtnis. Aber ein Rasiermesser ist unersetzlich."
„Deine Gedichte schneiden schärfer als jedes Rasiermesser!" rief ein Plebejer. „Du hast das hochmütige Patriziergeschlecht der Meteller so scharf mit ihnen rasiert, daß sich kein Meteller mehr in der Volksversammlung zu zeigen wagt!"
Das ist also der gefürchtete Gnaeus Naevius! dachte Publius. Seine beißenden Verse gegen die Meteller sind noch immer in aller Munde. Er blickte zur Bühne hinüber. Dort saß Achilles in seinem Zelt, von düsteren Todesahnungen gequält. Priamos, der greise Trojanerkönig, trat leidgebeugt ein, denn er hatte mitansehen müssen, wie Achilles seinen geliebten Sohn Hektor tötete, den Leichnam an seinen Streitwagen band und ihn dreimal um die Stadt Troja schleifte.
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