»Beabsichtigen Sie, mich zu heiraten?«, fragte Celia mit ernster Miene, während Maureen ihr unter dem Tisch vor Schreck einen Tritt gegen das Schienbein gab.
»Heiraten?«, stotterte Rupert und zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Wieso? Ich meine, was … wie …?«
»Ich will Sie auch nicht heiraten, Rupert«, unterbrach ihn Celia, deren strenge Miene und abwehrende Geste nicht zu erkennen gaben, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte oder im Ernst redete. »Und ich werde bestimmt nicht Ihre Mätresse werden. Deshalb sage ich: Nein danke!«
»Celia!«, schimpfte Maureen und wandte sich entschuldigend zu Rupert um. »Sie ist noch nicht ganz wieder beisammen. So ein Fieber kann lange nachwirken. Das müssen Sie ihr verzeihen, Rupert.«
»Meine Absichten sind absolut ehrenhaft, Celia«, bekräftigte Rupert und schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich käme niemals auf die Idee, Ihnen einen unanständigen Antrag zu machen. Das müssen Sie mir glauben.«
»Wie stellen Sie sich das vor?« Celia wurde nun tatsächlich etwas ärgerlich und knallte den Löffel, mit dem sie ihren Haferbrei gegessen hatte, auf den Tisch. »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie sind ein unverheirateter Mann, und ich bin eine unverheiratete Frau. Dass Mrs. Adams und alle hier in der Herberge glauben, ich wäre Ihre Geliebte, kann ich noch verkraften. Doch der Vorschlag, den Sie mir da unterbreiten, ist für mich eine Beleidigung und ganz unannehmbar. Ob Ihre Absichten ehrenhaft sind oder nicht, ist dabei völlig unerheblich.«
Rupert war wie vor den Kopf geschlagen. Damit hatte er nicht gerechnet. Und daran hatte er tatsächlich nicht gedacht. Aber natürlich hatte Celia recht. Die in seinen Augen verstaubten Ansichten von Moral und Sitte waren ihm so fremd, dass er sich nicht einen Augenblick überlegt hatte, welchen äußeren Anschein es erwecken würde, wenn Celia tatsächlich zu ihm ins Cottage zöge. Bruder und Schwester! Wie dumm von ihm! Wie egoistisch und gönnerhaft!
Wölfe und Schafe!, schoss es ihm durch den Kopf.
Eine Zeit lang stand er reglos und mit betretener Miene da und starrte zu Boden. Dann hellte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Mal wieder auf, und er fragte: »Und wenn ich Ihnen eine Anstellung als Haushälterin anbiete?«
»Ich habe bereits eine Anstellung bei Miss Watson«, erwiderte Celia ungerührt. »Ich stehe bei ihr im Wort und werde es nicht ohne Not brechen.«
Maureen schob die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern, als würde sie das nicht unbedingt als Wortbruch auffassen.
»Aber Sie können doch nicht ernsthaft in diesem elenden Loch bleiben wollen!«, platzte es aus Rupert heraus, und er breitete die Arme aus, als könnte er das Elend mit den Händen fassen. »Das kann ich nicht zulassen!«
»Das haben Sie nicht zu bestimmen, Sir!«, schimpfte Celia zurück.
Rupert schluckte und erstarrte.
»Außerdem werden wir nicht länger in diesem Loch bleiben«, sagte Maureen und lächelte kokett und zugleich ein wenig beleidigt. »Morgen ziehen wir in das neue Gästehaus in der Nähe vom People’s Palace. Die Bühnenleitung hat mir einen längerfristigen Vertrag angeboten und eine bessere Unterkunft besorgt. Die Wohnungen für die Künstler sind recht geräumig, nicht zu teuer und haben sogar einen Blick auf den Regent’s Canal.«
»Nur einen Steinwurf von Ihrem Cottage entfernt«, fügte Celia hinzu.
»Herzlichen Glückwunsch, Maureen! Das freut mich für Sie.« Rupert stand wie geohrfeigt da und schaute beschämt auf seine Hände. Er räusperte sich und setzte hinzu: »Es tut mir leid, Celia, ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin ein Narr. Seien Sie mir bitte nicht böse.«
»Ich bin Ihnen nicht böse, Rupert«, antwortete sie und lächelte ihm aufmunternd zu. »Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass Sie nicht in meiner Schuld stehen. Nicht meinetwegen, nicht wegen meiner Mutter und erst recht nicht wegen meines Vaters.« Sie zögerte und setzte dann hinzu: »Auch nicht wegen Ihres Vaters.«
»Sie wissen von meinem Vater und Ihrer Mutter?«, wunderte sich Rupert.
»Das ist nicht mehr wichtig«, sagte Celia und stand auf. »Können wir das alles nicht hinter uns lassen und einfach neu anfangen? Ohne Schuldigkeit, ohne offene Rechnungen.« Sie reichte Rupert mit feierlicher Miene die verbundene Hand und fragte: »Quitt?«
Rupert staunte einen Moment über diese seltsam kindliche Formulierung, schüttelte dann vorsichtig ihre Hand und antwortete: »Quitt!«
Sie atmete erleichtert aus, als fiele ihr in diesem Augenblick tatsächlich ein Stein vom Herzen, und sagte: »Danke, Rupert!«
Rupert hielt Celias Hand länger als nötig und dachte an das, was sie vorhin gesagt hatte. Dann lachte er plötzlich und fragte: »Warum wollen Sie mich eigentlich nicht heiraten?«
Celia lächelte verkrampft und sagte: »Wir würden uns nur streiten.«
Celia war hin-und hergerissen. Liebend gern hätte sie Ruperts Angebot angenommen. Eine Anstellung als Haushälterin oder auch als Dienstmädchen in seinem Cottage erschien ihr mehr als erstrebenswert. Wie die Erfüllung eines Traums. Doch es wäre aus den falschen Gründen gewesen und hätte zu nichts Gutem geführt. Celia wollte kein Mitleid und kein Almosen, sie wollte keine Anstellung, weil Rupert Ingram sich zu irgendetwas verpflichtet fühlte oder ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Es war, wie sie gesagt hatte: Er war ihr nichts schuldig. Der Rattenbiss, die unselige Affäre ihrer Eltern, der grausige Vorfall im Miller’s Court. All das spielte keine Rolle mehr, durfte keine Rolle spielen. »Schluss damit!«, hatte Rupert in jener schrecklichen Nacht aus tiefstem Herzen geschrien und damit Celia aus der Seele gesprochen.
Deshalb blieb sie als Dienstmädchen bei Maureen und zog mit ihr in das Gästehaus des People’s Palace. Rupert gegenüber hatte Maureen ein wenig geflunkert, denn die Wohnung war alles andere als geräumig, und von einem freien Blick auf den Kanal konnte ebenfalls keine Rede sein. Außerdem war das Haus noch nicht ganz fertiggestellt und würde für längere Zeit eine Baustelle bleiben. Und trotzdem kam Celia die winzige Wohnung, in der sie in einem schmalen Alkoven neben dem Flur schlafen musste, beinahe so prächtig vor wie die Queen’s Hall im nahe gelegenen Volkspalast, denn sie bedeutete einen Neuanfang. Einen Schlussstrich unter all den Schmutz und Dreck, der sich in Celias Kopf angesammelt hatte und sie zu ersticken drohte.
Sorge bereitete Celia lediglich der Gedanke, Rupert mit ihren harschen Worten derart verärgert zu haben, dass er fortan den Umgang mit ihr mied. Doch diese Sorge war unbegründet, wie sich schon bald herausstellen sollte. Bereits am Tag nach Ruperts morgendlichem Erscheinen in der White Horse Lane erhielten Maureen und Celia eine Einladung zum Tee für den kommenden Sonntag nach South Hackney. Der Botenjunge, der die Einladung überbrachte, war ein zersauster Lausejunge mit einer dunkelblauen Verfärbung im Gesicht, der mit ernster Miene und breitem Cockney-Dialekt ausrichtete, ein »Nein danke!« werde sein Herr diesmal nicht akzeptieren.
Als die beiden Frauen an diesem ersten Sonntag im November vor der Gartenpforte des kleinen Häuschens in der Victoria Park Road standen, staunten sie nicht schlecht. Das windschiefe und verwitterte Cottage erinnerte an die Hexenhäuschen aus den Märchen, und Celia musste erschrocken lachen, als sie die Inschrift auf dem nagelneuen Holzschild las, das Rupert über dem Eingang hatte anbringen lassen: »The Refuge«.
Während sie in dem noch karg und unwirtlich eingerichteten Wohnzimmer Tee und Salzgebäck zu sich nahmen und dabei von dem blaugesichtigen Cockneyjungen bedient wurden, berichtete Rupert in überschwänglichen Worten von seinen noch sehr vagen Zukunftsplänen. Offenbar wollte er sein Glück als Schriftsteller, Kritiker oder Reporter versuchen. So genau schien er das selbst noch nicht zu wissen, denn mal sprach er von Romanen und Theaterstücken, die er zu schreiben gedachte, dann wieder redete er von Zeitschriften oder Zeitungen, bei denen er vorstellig werden wollte. Am kommenden Dienstag habe er ein Vorstellungsgespräch bei den Illustrated London News , verkündete er stolz. Dass der Herausgeber des Magazins ein Namensvetter von ihm sei, könne bestimmt kein schlechtes Omen sein.
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