»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Celia und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Na, na, Kindchen«, lachte Heather mit ihrer heiseren Stimme. »Kein Grund, gleich zu heulen!« Sie fasste sich an die Stirn, stöhnte vor Schmerz und fügte hinzu: »Du glaubst ja nicht, was ich für einen Mist geträumt hab.«
»Doch«, sagte Celia und lächelte traurig. »Das glaube ich.«
EPILOG

THE REFUGE
»We were spies upon them; men of better luck whom they were bound to envy, and whose mere presence roused the rebel in them. A few of them, loitering about the hitechapel Road, flung a parting sneer or oath at us, as we hailed a returning cab and buried ourselves in it.«
(»Für sie waren wir Spione; Männer mit mehr Glück, die sie zu beneiden gezwungen waren und deren bloße Anwesenheit den Rebellen in ihnen weckte. Einige von ihnen, die an der Whitechapel Road herumlungerten, schickten uns Spott oder einen Fluch hinterher, während wir eine Droschke nach Hause heranwinkten und uns darin begruben.«) Blanchard Jerrold, »London: A Pilgrimage«, 1872

Celia sah ihren Vater nie wieder. Nachdem sie, zusammen mit Rupert Ingram, die verletzte Heather in einer Droschke zum London Hospital gebracht hatte und von dort aus, ebenfalls in Ruperts Begleitung, todmüde zu Maureens nahe gelegener Wohnung in der White Horse Lane gegangen war, hatte sie Miller’s Court nicht mehr betreten. Nicht an diesem denkwürdigen Tag und auch an keinem der folgenden. Sie wusste, dass ihr Vater das Weite gesucht hatte und nicht zu seiner Wohnung zurückkehren würde. Wie damals auf den Clacton Cliffs, als sie das weiße Segel seiner Rennjacht am Horizont hatte verschwinden sehen. Ihr Vater war ein weiteres Mal geflüchtet, und diesmal suchte Celia nicht nach ihm. Sie hatte begriffen, dass es ein bedauerlicher Irrtum gewesen war, einem Mann folgen zu wollen, der sie im Stich gelassen und alle Brücken hinter sich abgerissen hatte.
»Lass mich!«, hatte er sie angeschrien, und deshalb ließ sie ihn. Für immer.
Wie sie Rupert gegenüber betont hatte, wollte sie kein Wort darüber hören, was er Schreckliches getan hatte und weshalb ihm der Galgen drohte. Es war wie eine Art Selbstschutz oder Notwehr, um endgültig aus seinem Schatten zu treten und ein eigenes Leben zu führen. Ihr Vater wurde wieder zu dem Fremden und Unbekannten, der er zuvor so lange gewesen war. »Mr. Brooks«, wie ihre Mutter ihn stets genannt hatte.
Etwa ein Jahr nach den hier geschilderten Ereignissen erfuhr Celia aus einem Brief ihres ältesten Bruders John, dass ihr Vater womöglich wieder in Southampton lebte. John hatte in der Zwischenzeit bei einer anderen Reederei angeheuert und fuhr nun für die P&O Company auf einem Dampfschiff zwischen Southampton, Alexandria und Konstantinopel. In einer Hafenkneipe in Northam wurde ihm, als er beiläufig seinen Nachnamen nannte, die Geschichte eines Seemanns erzählt, der von Kneipe zu Kneipe wandelte und für einen Schnaps oder ein Bier schauerliche Geschichten zum Besten gab. Dieser Mann heiße ebenfalls Brooks und sei ein jämmerlicher Trunkenbold, wie ein alter Seebär berichtete. Er verbreite mit Vorliebe Seemannsgarn über den Kannibalen des Meeres, den Elefantenmenschen und Jack the Ripper und leide unter Verfolgungswahn, offenbar wegen seiner Trunksucht. Ständig rede er von Geistern, die ihm nach dem Leben trachteten. John schrieb in seinem Brief, dass er nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob es sich bei dem betreffenden Mr. Brooks in Southampton um ihren Vater handele, aber es bestehe immerhin die vage Möglichkeit.
Auch für Rupert brachten die folgenden Tage und Wochen große Veränderungen. Als er am Freitagabend, mit blauem Auge, geschwollener Wange und genähter Platzwunde an der Schläfe, beim Familiendinner verkündete, er werde in Kürze das Hatchett’s Hotel verlassen, sich eine eigene Bleibe suchen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen, erwarteten seine Brüder einen Tobsuchtsanfall ihres Vaters. Doch Harvey Ingram, der schon auf Ruperts ungehöriges Aussehen erstaunlich regungslos und eher verstört als erbost reagiert hatte, nickte nur mit dem Kopf und machte seinem jüngsten Sohn einen für alle verblüffenden Vorschlag. Eine entfernte Tante der Ingrams sei, wie Rupert wisse, vor einigen Wochen gestorben, erklärte der Vater steif und mit nachdenklicher Miene. Diese Tante habe ihren beiden verheirateten Töchtern das kleine Cottage in der Nähe des Victoria Parks vermacht, in dem sie ihr ganzes langes Leben gewohnt habe. Die Töchter jedoch, die längst mit ihren Familien in die Londoner Vororte gezogen seien, hätten keine Verwendung für das zwar idyllisch, aber doch allzu nahe am East End gelegene Häuschen. Deshalb beabsichtige er, Harvey, seinen Cousinen das Cottage abzukaufen und es Rupert für ein Jahr kostenlos zur Verfügung zu stellen. Auch für ein kleines Startkapital wolle er sorgen. Sollte sein Sohn es schaffen, in diesem Jahr für sein Auskommen zu sorgen und sich eine ernsthafte Perspektive im Leben zu erarbeiten, könne er das Cottage behalten und anschließend damit tun und lassen, was er wolle.
»Und falls nicht?«, fragte Rupert.
»Werde ich alles Weitere in die Wege leiten.«
»Alles Weitere?«, fragte Rupert und schluckte.
»Alles Weitere! Und zwar ohne Widerrede!«, antwortete sein Vater streng und streckte ihm die Hand entgegen. »Bist du einverstanden?«
Rupert zögerte kurz, nickte schließlich und schlug ein.
Bereits am Montag wurde der für die Cousinen sehr großzügige Kaufvertrag unterschrieben, nur zwei Tage später zog Rupert mit seinem kargen Hausstand, der lediglich aus wenigen Möbeln, leidlich Kleidung, einer großen Bildermappe und vielen Büchern bestand, nach South Hackney. In ein von einem verwilderten Garten umgebenes Fachwerkhäuschen, das neben den mehrgeschossigen Neubauten und backsteinernen Reihenhäusern der Gegend wie aus der Zeit gefallen wirkte. Wie ein Relikt. Oder ein Refugium.
Gray Maggott, den ebenso verlässlichen wie eigentümlichen Laufburschen aus dem Crown Hotel, nahm Rupert mit. Als Hausdiener, Gärtner und Botenjungen. So eigenartig es Rupert auch erschien, er hatte sich an diesen komischen und zugleich völlig humorfreien Kauz gewöhnt. Er war ihm seltsam vertraut.
»Mein Faktotum«, wie Rupert scherzhaft sagte.
Gray hatte offensichtlich keine Ahnung, was sein alter und neuer Herr damit meinte, war’s aber dennoch zufrieden, grinste breit und sagte: »Ay, Boss!«
Ruperts erster Gang am nächsten Morgen führte ihn in die White Horse Lane, zum Dosshouse der Mrs. Adams. Dort saßen Celia Brooks, die immer noch blass, aber nicht mehr ganz so krank und ausgezehrt aussah, und Maureen Watson in der Dachkammer beim Frühstück. Die beiden jungen Frauen staunten nicht schlecht, als Rupert sich ungelenk vor ihnen aufbaute, in wirren Worten seine veränderte Situation beschrieb und Celia herumdrucksend aufforderte, zu ihm ins Cottage zu ziehen.
In seinem Kopf hatte er sich alles bereits zurechtgelegt und ausgemalt: Sie würden wie Bruder und Schwester leben, in aller Bescheidenheit und Zurückgezogenheit, und dann könnte er zumindest in Teilen wiedergutmachen, was die Ingrams an den Brooks verbrochen hatten. Rupert hatte das beklemmende Gefühl, tief in Celias Schuld zu stehen. Gleich mehrfach. Nicht nur, weil sie ihm das Leben gerettet hatte.
Doch zu seinem unaussprechlichem Erstaunen schüttelte Celia den Kopf, lächelte verlegen und sagte: »Nein danke!«
»Nein danke?« Rupert war so überrascht, dass ihm die Kinnlade herunterfiel. »Warum nicht?«
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