Und dann geschah etwas Seltsames. Ihr Vater seufzte und wandte sich ab, als könnte er ihren Anblick tatsächlich nicht länger ertragen. »Ich komme gleich«, murmelte er leise und hielt sich die Hand über die Augen, als würde er durch irgendetwas geblendet. Fast flehentlich setzte er hinzu: »Lass mich, Kind!«
Damals begriff Celia davon natürlich nichts und wunderte sich nur über das seltsame Verhalten ihres Vaters. Doch wenn sie heute darüber nachdachte, dann kam es ihr vor, als hätte er Angst vor ihr gehabt. Als wäre sie ihm regelrecht unheimlich gewesen. Und alles nur, weil sie ihn angeschaut hatte.
»Na, Mädchen«, wurde Celia durch eine krächzende Männerstimme aus ihren Gedanken gerissen. »So spät noch unterwegs? Solltest du nicht längst zu Hause sein? Es ist bereits nach Mitternacht.«
Celia fuhr erschrocken zusammen und atmete erleichtert auf, als sie einen mürrisch dreinschauenden Constable vor sich sah. »Danke, Officer!«, antwortete sie und versuchte zu lächeln. »Ich warte auf jemanden.«
Der Uniformierte schaute sie halb mitleidig, halb streng an und sagte: »Dies ist kein Ort, um nachts allein auf der Straße zu stehen.«
»Ich warte«, wiederholte Celia verstockt. »Danke, Sir.«
Der Constable knurrte abfällig, zog die Stirn kraus und ging weiter.
Celia schaute ihm nach und begriff erst jetzt, dass er sie vermutlich für eine Prostituierte gehalten hatte. Auch deshalb war sie erleichtert, als er gegenüber in die Church Street einbog, am Ten Bells vorbeiging und hinter der Kirche verschwand. Im selben Augenblick wurde hinter Celia die Tür zum Britannia aufgerissen, und ein Mann rief: »Schluss für heute! Raus mit euch!«
Oh nein!, schoss es Celia durch den Kopf, als sie herumfuhr und wieder zur Kneipe schaute. Das Britannia wurde geschlossen. Durch das Fenster konnte sie beobachten, wie die beiden Männer vom Wirt auf die Straße geschubst wurden.
Erst als Michael und ihr Vater draußen den Weg in Richtung Dorset Street eingeschlagen hatten, wagte sich Celia aus ihrem Versteck. Dabei trat sie versehentlich einem Straßenköter, der unter dem Fuhrwerk geschlafen hatte, auf den Schwanz. Mit einem Knurren sprang der Hund auf und raste davon. Celia ging blitzschnell wieder in Deckung.
»Was war das?«, fragte ihr Vater.
Zunächst glaubte Celia, er hätte sie trotz des Nebels entdeckt, doch als sie hinter dem Fuhrwerk hervorlugte, erkannte sie, dass die beiden Männer weiter in die andere Richtung wankten.
»Das werden wir gleich sehen«, sagte Michael.
Im nächsten Augenblick waren sie in einem Durchgang auf der rechten Seite verschwunden.
»Miller’s Court«, stand auf einem Schild über dem schmalen Torbogen. Das konnte Celia in der Dunkelheit und dem Nebel zwar nicht lesen, aber sie war im Laufe des Abends so häufig durch die Dorset Street gegangen, dass sie jedes Gebäude in der schmalen Gasse zu kennen glaubte. Michael und Heather wohnten weiter hinten in der Straße, wie sie sich zu erinnern glaubte, also musste sich im Miller’s Court die Wohnung ihres Vaters befinden. Und vermutlich würde Michael bald wieder auftauchen, um nach Hause zu gehen. Dann würde Celia sich ihrem Vater stellen. Würde ihn stellen. Komme, was da wolle.
Doch nichts geschah. Michael kam nicht wieder heraus. Kein Ton war zu hören. Also wagte sich Celia bis zum Torbogen vor und lugte vorsichtig in den Durchgang. Eine Laterne beleuchtete den dahinterliegenden Yard, doch das Einzige, was sie sah, war der Schatten eines Mannes, der mit dem Rücken zu ihr und breitbeinig am hinteren Ende des Durchgangs stand. Wie ein Wachsoldat. Der Größe nach zu urteilen, musste es sich um Celias Vater handeln. Von dem viel kleineren Michael war nichts zu sehen. Nur leise Stimmen drangen in diesem Augenblick durch die Dunkelheit. Zu leise, um die Worte zu verstehen.
Celia trat in den Torbogen und überlegte, ob sie ihren Vater ansprechen sollte, als dieser plötzlich den Durchgang verließ und in den Hof ging, wo er auf der rechten Seite in einer dunklen Nische verschwand. Es quietschte metallisch, und kurz darauf erschien ihr Vater wieder im Torbogen. In der Hand hielt er nun einen an beiden Enden gebogenen Stab, es sah beinahe aus wie der Schwengel einer Pumpe.
»Vater!«, wollte Celia sagen, doch ihre Stimme versagte.
Und im gleichen Augenblick schrie jemand ganz in der Nähe: »Scheiß auf Liz!«
Celia erschrak. Auch ihr Vater zuckte merklich zusammen. Er räusperte sich mehrmals, als hätte er einen Frosch im Hals, dann ging er mit großen Schritten nach hinten, wo der Hof so dunkel und der Nebel so dicht war, dass Celia nichts erkennen konnte. Langsam tastete sie sich durch den Durchlass, bis sie den engen Hof erreicht hatte. Zur Rechten befand sich eine Wasserpumpe ohne Schwengel, zur Linken eine flackernde Gaslaterne an einer Häuserwand, und am hinteren Ende des Yards glaubte sie mehrere Holzkabinen zu erkennen. Vermutlich die Latrine.
In diesem Moment stieß jemand einen spitzen Schmerzensschrei aus.
Kurz darauf hörte sie Michael rufen: »Mach schon!«
Und als Antwort brüllte Celias Vater wie von Sinnen. Es klang fast nicht mehr menschlich. Aus einer Wohnung im Vorderhaus, direkt neben dem Durchgang, hörte Celia unverständliche Geräusche. Dann war plötzlich alles still.
Celia hätte fortrennen sollen. Nur weg von hier. So schnell wie möglich. Zur Hauptstraße, wo die Polizisten Streife gingen. Zum Ten Bells, das vermutlich immer noch geöffnet war. Oder in die Hanbury Street, wo sie im Frauenasyl der Heilsarmee Zuflucht finden würde. Doch stattdessen schlich sie, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, in den hinteren Teil des Hofes und lugte um die Ecke. Dort stand die Tür zu einem fensterlosen Holzschuppen auf. Mattes Kerzenlicht erleuchtete das Innere.
Celia konnte kaum glauben, was sich dort ihren Blicken bot. In der winzigen Holzkammer befanden sich vier Personen auf engstem Raum. An der Rückwand lag irgendjemand auf einer Pritsche unter einer Decke und bewegte sich nicht. Michael hockte links von der Tür neben einem Holztisch auf dem Boden und hielt sich jammernd die rechte Hand, die seltsam deformiert aussah. Eine weitere Gestalt lag leblos im pelzbesetzten Mantel auf dem Boden, neben sich eine leere Schnapsflasche und einen Zylinder. Und Celias Vater stand über dem Leblosen und hielt den Pumpschwengel mit beiden Händen über dem Kopf, als wollte er ihn auf den Liegenden niedersausen lassen.
»Worauf wartest du?«, zischte Michael. »Schlag zu!«
Ihr Vater nickte, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht lag es daran, dass sich der Mann auf dem Boden gerade bewegt hatte.
»Los, du Schwachkopf!«, schrie Michael. »Er ist noch nicht hin!«
Celia stand reglos in der Tür und starrte wie gebannt auf die Szenerie. Niemand bemerkte sie, und selbst wenn, wäre es ihr egal gewesen, denn sie hatte gerade erkannt, wer dort mit blutendem Schädel auf dem Boden lag und ein dumpfes Stöhnen von sich gab. Ein junger Mann mit einem Herz auf der Wange, so groß wie eine Half-Crown-Münze. Rupert Ingram!
Was, um alles in der Welt, hatte der denn hier zu suchen? Was mochte das bedeuten? Und wieso wollte ihr Vater ihn umbringen? Alles drehte sich vor ihren Augen. Nichts ergab mehr Sinn. Die Welt war aus den Fugen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
Und darum schrie sie ihren Vater an: »Tu’s nicht!«
Er fuhr entsetzt herum, starrte sie an, wie er sie auch am Montag angestarrt hatte, und rief: »Mary!« Er wich zurück, bis er an die Holzwand stieß, ließ mutlos die Eisenstange sinken, schüttelte den Kopf und wisperte: »Kommst du mich jetzt holen?«
Celia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Aber sie musste irgendetwas tun. Deshalb nickte sie wortlos, ging einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus, um ihm den Schwengel abzunehmen.
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