Ihr Vater saß in der Kneipe. Zusammen mit dem finster dreinschauenden Michael, dem neuen und alles andere als sympathisch wirkenden Freund von Heather. Sie saßen an einem Tisch unweit des Tresens, steckten die Köpfe zusammen, rauchten Pfeife und bestellten eine Runde nach der anderen. Celia hatte sich hinter einem auf dem Gehsteig abgestellten Fuhrwerk versteckt, sodass sie die Männer aus der Deckung beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Weil der Tresenraum überdies hell beleuchtet war, während der Gehweg im Nebel lag, stand nicht zu befürchten, dass ihr Vater auf sie aufmerksam würde.
Sie hatte ihn tatsächlich gefunden! Endlich! Doch nun, da sie ihr Ziel erreicht hatte, wusste sie nicht, was sie tun und wie sie ihrem Vater begegnen sollte. Einfach in die Kneipe zu gehen, sich vor ihm aufzubauen und zu sagen: »Hallo, Vater, ich bin Celia!«, das erschien ihr absurd und unmöglich. Nicht zuletzt, weil dieser Michael dabei war, der sie einschüchterte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Nein, lieber wollte sie abwarten und beobachten. Solange ihr Vater im Britannia saß und sie an Ort und Stelle blieb, konnte er ihr nicht entwischen. Wenn er dann den Pub verließe, könnte sie ihm nach Hause folgen und ihn ansprechen, sobald er allein wäre. Auch wenn ihr davor bang war, weil sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte und wie er wohl darauf reagieren würde. Die Worte des Wirts in Southampton fielen ihr wieder ein: »Weil er nämlich nicht gefunden werden will!« Und seine Frau hatte hinzugesetzt: »Antworten gibt’s nicht umsonst.«
Und doch war Celia froh, dass sie hergekommen war. Sich hergetraut hatte. Mehrere Stunden hatte sie sich schon in der Gegend herumgetrieben, war immer wieder in die Dorset Street und zum Britannia Pub oder Ten Bells gegangen und hatte die Augen und Ohren offen gehalten. Im Ten Bells hatte Heather vor einigen Tagen Michael kennengelernt, in der Dorset Street wohnten die beiden, und vor dem Britannia hatte Celia, kurz vor ihrem Zusammenbruch, ihren Vater entdeckt. »Ein Nachbar«, wie Heather gesagt hatte. »Ein komischer Kauz!« Also war Celia den halben Tag lang stoisch von Ort zu Ort gegangen, rings um die Christ Church, immer darauf hoffend, irgendwo auf ihren Vater zu treffen. »Nicht ganz dicht in der Birne!« Auch das waren Heathers Worte gewesen.
Seitdem Celia ihrem Vater am Montag begegnet war, hatte sie an nichts anderes mehr denken können. Selbst in ihren wirren Fieberträumen war er ihr erschienen, zusammen mit den beiden anderen Männern, denen sie in den letzten Tagen so unerklärlich oft über den Weg gelaufen war. Als sie am Donnerstagmorgen endlich wieder halbwegs erholt und fieberfrei gewesen war, hatte ihr Beschluss festgestanden: Sobald Maureen am Abend die Wohnung verlassen würde, um im People’s Palace aufzutreten, wollte Celia nach Spitalfields gehen und Ausschau halten. Wie die Polizisten auf Streife, von denen es in der Gegend nur so wimmelte, seitdem der Ripper im East End sein Unwesen trieb.
Beinahe wäre es jedoch gar nicht dazu gekommen, denn Maureen wollte sie zunächst nicht allein lassen. Celia sei noch nicht gesund und könne jederzeit einen Rückfall erleiden. Und da Rupert Ingram nicht da sei, um in der Zwischenzeit auf sie aufzupassen, werde Maureen ihren Auftritt absagen und bei Celia bleiben. Sie könne ihr auch etwas vorlesen, wenn ihr denn der Sinn nach Büchern stehe.
»Lesen schadet«, antwortete Celia grinsend und beschwor Maureen, doch bitte keine unnötige Rücksicht auf sie zu nehmen. Sie sei wieder gesund und bei Kräften, ihre Hand tue gar nicht mehr weh, auch das Fieber sei verschwunden. Und vor allem solle Maureen nicht ihretwegen auf ihre Gage verzichten. Celia wusste, dass Maureen pro Auftritt bezahlt wurde und ihr Honorar nur erhielt, wenn sie abends auf der Bühne stand. Celia meinte, es sei doch unsinnig, ihr beim Schlafen zuzusehen, wenn Maureen zur selben Zeit gutes Geld verdienen könne. Sie sei so müde, dass sie ohnehin früh zu Bett gehe. Und falls sie doch etwas benötige, könne sie ja Mrs. Adams im Dosshouse fragen. Deren Fett-und Zwiebelgestank werde sie schon überleben, wie Celia lachend hinzufügte.
Schließlich gab sich Maureen geschlagen, packte ihre Kostümtasche und verließ nach dem Abendbrot die Wohnung. Nur eine Dreiviertelstunde später stand Celia vor der Christ Church und begann ihre Runden. Mit Erfolg, wie sich inzwischen herausgestellt hatte.
Gebannt schaute sie durch das Fenster auf ihren Vater. Der Rauschebart, die hohe Stirn, die stattliche Figur – alles war eigentlich genauso, wie Celia es in Erinnerung hatte. Und doch hätte sie ihren Vater vermutlich niemals erkannt, wenn er sie am Montag nicht so seltsam angestarrt hätte. Wie eine Erscheinung. Wie einen Geist.
Auch jetzt war es vor allem der seltsame Ausdruck in seinen Augen, der Celia verwirrte und gleichzeitig in den Bann zog. Sein Blick erinnerte sie an den eines Hundes, zugleich treuherzig und gehetzt, zutraulich und doch lauernd, immer auf der Hut. Wenn Michael etwas sagte und dabei meistens zur Decke oder auf sein Bierglas schaute, dann klebte Vaters Blick regelrecht an ihm, er schien jedes Wort auch mit den Augen aufzusaugen. Doch sobald sich die Blicke trafen, starrte er schlagartig auf den Tisch, zu Boden oder auf seine Pfeife, als hätte er vor irgendetwas Angst. Als befürchtete er, durchschaut zu werden. Oder bestraft.
»Kannst du mich nicht anschauen, wenn ich mit dir rede?«, hatte ihre Mutter ihn früher immer wieder angefahren.
»Nein, kann ich nicht!«, hatte ihr Vater manchmal erwidert. »Du mit deinem verdammten Hexenblick! Da läuft’s einem ja kalt den Rücken runter!«
Celia erinnerte sich an eine Begegnung mit ihrem Vater, einige Monate bevor er die Familie verlassen hatte. Celia hatte von ihrer Mutter den Auftrag erhalten, den Vater aus der Kneipe nach Hause zu holen. Es war ein Sonntag im Januar, die Rennsaison war längst vorbei, und Ned Brooks verbrachte die meiste Zeit, wenn er nicht im Hafen arbeitete oder mit den Austernfischern auf See war, im Rosebud Pub am Hurst Green, dem Dorfanger am Rande von Brightlingsea. Celia sollte den Vater zum Essen holen. Mr. Hutchinson, der Nachbar, hatte ihnen ein Stück von dem Wildbret abgegeben, das er von seinem Sohn bekommen hatte, und weil es sonst nie Wildschweinbraten im Hause Brooks gab, sollte Celia dem Vater Bescheid geben. Damit der sich nachher nicht beschweren könne.
Celia war damals acht Jahre alt gewesen und hatte ihren Vater noch niemals beim Zechen in einem Pub erlebt. Entweder war er auf hoher See oder unten am Hafen, oder er lag betrunken und schnarchend auf dem Sofa, nur so kannte Celia ihn. Abwesend oder abweisend. Doch wie er sich unter Seemännern und Fischern in einer Kneipe aufführte, davon hatte Celia keine Ahnung. Umso überraschter war sie, als sie ihren Vater im Kreise der Nachbarn und Kollegen sah. Er erzählte gerade eine offenbar lustige Geschichte, fuchtelte gestenreich mit den Händen und lachte immer wieder laut auf. Auch die anderen Männer grölten und klopften mit den Knöcheln auf die Tischplatte.
Celia trat schüchtern an den Tisch und sagte: »Vater!«
Er hielt inne, schaute sie an und erstarrte. »Was?«, knurrte er.
»Das Essen ist fertig«, antwortete Celia und sah ihren Vater erschrocken an. »Es gibt Wildschweinbraten. Von Mr. Hutchinson. Also eigentlich nicht von Mr. Hutchinson, sondern von seinem Sohn. Mutter sagt …«
»Ja, ja«, unterbrach er sie und wedelte sie mit der Hand weg. Wie eine lästige Fliege.
»Aber Mutter meint …«, beharrte Celia und suchte den Blick des Vaters.
»Starr mich nicht so an!«, schnauzte er plötzlich. »Das hält doch kein Mensch aus.«
Celia verstand nicht und gefror zu Eis.
»Hast genau so einen Blick wie deine Mutter!«, rief er aufgebracht. »Kannst du nicht woanders hingucken?«
»Woanders?« Celia war nicht in der Lage, sich zu bewegen oder ihre Augen abzuwenden. »Wo soll ich denn sonst hingucken?« Die verzerrte Fratze ihres Vaters zog sie wie ein Magnet an, sie konnte nicht anders als hinschauen.
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