Ganz langsam und vorsichtig schraubte der GuRie das Glasgefäß auf und kippte den ruckenden, zuckenden glutroten Borstenbuckler in den weiten Trichter seiner langen Trompete. Das dünne Ende der Trompete steckte er sich in den Mund. Jetzt zielte er mit dem Ding genau auf das Ges icht des Fleischfetzenfressers. Schließlich holte er ganz tief Luft, blähte die Backen auf und -pfffff - pustete mit aller Kraft durch das Rohr.
Sophiechen sah etwas Rotes, das wie der Blitz auf das Gesicht des Riesen zuschoß. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb das rote Ding über dem Gesicht stehen. Dann war es weg. Vielleicht hatten es die Nasenlöcher des Riesen aufgesaugt. Aber alles war so schnell gegangen, daß Sophiechen gar nicht recht mitkam.
«Wir machen uns lieber sofort aus dem Staubsauger», flüsterte der GuRie. Und schon zog er sich ungefähr dreißig Meter zurück, blieb stehen und ging am Boden in Dek kung. « Also », murmelte er. «Abwarten und Teer trinken. Mal sehen, was passiert.» Lange mußten sie nicht warten.
Ein Schrei, so grauenvoll, wie ihn Sophiechen noch nie gehört hatte, zerriß die Mittagsschlafstille der Riesen. Sie sah, wie der Körper des Fleischfetzenfressers in seiner ganzen gewaltigen Länge von sechzehn Meter dreiundzwanzig vom Boden in die Luft gehoben wurde und dann mit dumpfem Poltern wieder auf die Erde krachte. Dort wälzte und wand und verdrehte sich dieser riesige Leib in rasenden Krämpfen. Dieser Anblick konnte einem schon angst machen.
«Auuuaaah!» brüllte der Fleischfetzenfresser. «Iiiioooh! Uuuuau!»
«Der schläft noch», flüsterte der GuRie. «Der grauenhafte borstenbucklige Todesangst-Schocker fängt jetzt an zu wirken.»
«Geschieht ihm recht», sagte Sophiechen. Mitleid konnte sie für diesen brutalen Koloß überhaupt nicht empfinden, der immerhin kleine Kinder fraß, als wären sie Würfelzucker.
«Hilfe!» schrie der Fleischfetzenfresser und schlug wie wahnsinnig um sich. «Er rennt hinter mir her! Gleich hat er mich! Gleich hat er mich!»
Das Um-sich-Schlagen und Trampeln und Zucken und Herumfuchteln wurde von Sekunde zu Sekunde immer wilder und wüster. Es sah einfach umwerfend aus, wie eine so hünenhafte Gestalt von so übermächtigen Krämpfen geschüttelt wurde.
«Das Schneiderlein! Das Schneiderlein!» stieß der Fleischfetzenfresser gurgelnd hervor. «Der schreckliche Schneider! Dieser scheußliche Schuft von Schneider! Jetzt schleicht er sich an! Jetzt schlitzt er mich auf! Das Schneiderlein kommt! Das Schneiderlein!» Dabei krümmte und ringelte sich der Fleischfetzenfresser am Boden wie eine gepeinigte Schlange von gewaltigen Ausmaßen. «Nein, Schneider, nein!» schrie er flehentlich. «Nicht weh tun, Schneider, bitte nicht weh tun», winselte er gequält. «Was für einen Schneider meint er denn?» wisperte Sophiechen.
«Der Schneider, das ist das einzige menschliche Leberwe sen, vor dem alle Riesen Angst haben», erklärte ihr der GuRie. «Alle fürchten sich furchtbar vor dem tapferen Schneiderlein. Das tapfere Schneiderlein, haben sie gehört, ist ein berühmter Riesenjäger.»
«Laß mich!» heulte der Fleischfetzenfresser. «Gnade, Gnade für einen armen kleinen Riesen! Der Streich! Jetzt kommt er mit seinem Streich auf mich zu! Weg mit deinem Streich! Liebes, liebes Schneiderlein, ich flehe dich an: Komm mir nicht zu nahe mit deinem Streich!» «Wir Riesen», flüsterte der GuRie, «wir wissen nicht viel über dieses fürchterbare menschliche Leberwesen namens Schneiderlein. Wir wissen nur, daß er ein ganz berühmter Riesenjäger ist und etwas hat, das heißt Streich. Und wir wissen, daß er mit diesem Streich einmal sieben Riesen totgehauen hat: sieben auf einen Streich!» An dieser Stelle konnte Sophiechen sich ein Lächeln nicht verkneifen.
«Worüber lachst du?» fragte der GuRie mißtrauisch. «Erzähl ich dir später», sagte Sophiechen. Der böse Alptraum hatte den riesigen Kerl nun so gepackt, daß er seinen ganzen gigantischen Körper zu Knoten verrenkte. «Nein, Schneiderlein, tu's nicht!» quietschte er schrill. «Ich hab dich doch auch noch nie aufgefressen, Schneiderlein! Ich freß gar keine menschlichen Leberwesen! Ich schwöre, ich hab noch nie in meinem ganzen Riesenleben ein menschliches Leberwesen probiert!»
«Lügner!» sagte der GuRie.
In diesem Augenblick traf der wild um sich schlagende Fleischfetzenfresser mit der Faust den schlafenden Klumpenwürger mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Gleichzeitig klatschte eins von seinen wild strampelnden Beinen dem schnarchenden Hackepeter in den Bauch. Blitzartig wachten die beiden getroffenen Riesen auf und sprangen auf die Füße.
«Er hat mir mitten in den Mund gehaut», beklagte sich der Klumpenwürger.
«Und bei mir hat er auf dem Bauch Trampolin geturnt!» schimpfte der Hackepeter.
Alle beide stürzten sich nun auf den Fleischfetzenfresser und bearbeiteten ihn gründlich mit Fäusten und Füßen. Da war der elende Fleischfetzenfresser aber sofort hell wach. Den einen Alptraum ließ er beim Aufwachen hinter sich, und schon erlebte er den nächsten Alptraum. Mit Gebrüll stürzte er sich in die Schlacht, und von dem Geschrei und Getöse der Prügelei wurden nacheinander alle schlafenden Riesen geweckt, weil sie einen Tritt oder Schlag abkriegten. Nicht lange, und alle neune waren aufgesprungen und beteiligten sich nach Herzenslust an der allergrößten Klopperei, die man sich denken kann. Sie boxten und traten und kratzten und bissen und knufften und bufften einander aus Leibeskräften. Es spritzte das Blut. Manche Nase wurde platt. Und lose Zähne flogen durch die Luft wie Hagelkörner. Die Riesen grunzten und kreischten und fluchten, was das Zeug hielt, und minutenlang erbebte die gelbe Ebene vom Schlachtengetümmel. Der GuRie strahlte übers ganze Gesicht vor Vergnügen. «Ich schadenfreue mich so gern, wenn die sich da ordentlich prügeln», sagte er.
«Die bringen sich noch um», sagte Sophiechen. «Niemals», erwiderte der GuRie. «Die Ungetüme mögen sich gern verdreschen und verbimsen. Aber wenn es nach her dunkel wird, hören sie auf und galoppieren los, um sich den Wanst vollzuschlagen.»
«Die sind eklig und stinkig und fies», sagte Sophiechen. «Ich finde sie scheußlich!»
Als der GuRie zu seiner Höhle heimkehrte, sagte er befriedigt: «Mit dem Alptraum haben wir aber etwas Tolles gemacht, oder?»
«Etwas Obertolles», sagte Sophiechen. «Hast du prima hingekriegt.»
Der Gute Riese saß in seiner Höhle am großen Tisch und machte seine Hausaufgaben.
Sophiechen hockte im Schneidersitz daneben auf der Tischplatte und sah ihm beim Arbeiten zu. Das Glas mit dem einzigen guten Traum, den sie an diesem Tag gefangen hatten, stand in der Nähe. Der GuRie malte mit viel Sorgfalt und Geduld Druckbuchstaben auf ein Stück Papier. Er tat das mit einem kolossalen Bleistift.
«Was schreibst du da?» fragte Sophiechen. «Jeder Traum hat einen Zettel auf seinem Glas», sagte der GuRie. «Sonst würde ich ja den richtigen nicht finden, wenn ich's eilig habe.»
«Aber kannst du denn sagen, was für ein Traum das ist, wenn du nur am Glas horchst?» fragte Sophiechen.
«Ja, kann ich», sagte der GuRie, ohne aufzublicken. «Aber wie machst du das? Gehst du danach, wie der Traum summt und brummt?»
«Beinah richtig», sagte der GuRie. «Jeder Traum auf der Welt macht seine eigene Musik. Und meine großen Segelohren hier, die können diese Musik hören.» «Meinst du mit Musik Melodien?» «Nein, keine Melodien.» «Was meinst du dann?»
«Die menschlichen Leberwesen machen ihre eigene Musik. Stimmt's oder hab ich recht?»
«Genau», sagte Sophiechen. « Viel Musik .» «Und manchmal sind die menschlichen Leberwesen ganz weg, wenn sie wunderwunderschöne Musiktöne hören. Dann läuft ihnen vor Wonne ein kalter Schlauer über den Rücken. Stimmt's oder hab ich recht?» «Genau», sagte Sophiechen.
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