Die Herdplatte erwärmte sich. Der Ornithologe faltete die Wetter jacke auseinander, holte zwei große
Eidereier hervor und schlug sie auf. Den Inhalt goß er auf die Herdplatte. Ein angenehmer Duft, vermischt mit Rauchgeruch, erfüllte das Zimmer. Viktor biß sich auf die Lippen, bis es schmerzte.
„Komm essen", rief ihn der Ornithologe.
Viktor lag, ohne sich zu rühren.
„Ich sehe doch, daß du nicht schläfst."
„Ich esse nichts", entgegnete Viktor. Die Augen ließ er geschlossen.
Der Ornithologe nahm den ungleichmäßig gebackenen Fladen mit den beiden gelben Dottern vom Herd und legte ihn auf den Tisch.
„Iß", wiederholte er müde und stampfte mit schweren Tritten hinaus.
Viktor fuhr auf, spähte durchs Fenster. Der hagere Ornithologe stand hoch aufgerichtet am Ufer. Er sah dem Spiel der Wellen zu.
Eine Hand streckte sich nach den Spiegeleiern aus, brach ein knuspriges, hauchdünnes Stück vom Rand ab und steckte es in den Mund. Viktor empfand den unerträglich süßen Beigeschmack des gebräunten Eiweißes. Voller Verachtung für sich selber, aber außerstande, seine Eßlust länger zu zähmen, schnitt er den gargebackenen Fladen in zwei Teile, bestreute den größeren mit grobkörnigem Salz und verzehrte ihn gierig.
Dann legte er sich aufs Bett. Rasch schlief er ein. Er träumte von einer Woge, die das Ufer überflutete, größer und größer wurde und ihn über die Erde jagte. Er rannte durch eine Straße, in der die Türen und Fenster der Häuser vernagelt waren, klopfte, aber niemand öffnete. Da erreichte ihn die Woge, und Viktor weinte.
Mitten in der Nacht wurde er von dem Ornithologen geweckt.
Die See hatte sich beruhigt. Anderthalb Stunden später befanden sie sich vor dem Gebäude der Naturschutzverwaltung.
Der verschlafene Beobachter kam ihnen entgegen.
„Seid wohl im Schutzhäuschen steckengeblieben?" fragte er gähnend.
„So ist es", erwiderte der Ornithologe. „Hab ich mir schon gedacht. Wollt ihr was essen?"
„Gib dem Jungen. Aber nicht zuviel. Er hat zwei Tage gefastet."
„Was?" wunderte sich der Beobachter.
„Und sonst? Alles in Ordnung?"
„Alles in Ordnung", erwiderte der Ornithologe.
„Bist ein Held." Der Beobachter schmunzelte.
„Geh an die Arbeit!" wies ihn der Ornithologe trocken zurecht.
Nach dem Mahl suchte Viktor das Zimmer auf, das man den Kindern zugewiesen hatte. Die anderen ruhten auf dem Fußboden. Sie mußten sehr müde sein. Nicht einer rührte sich. Auch Viktor kroch in seinen Schlafsack, lag aber mit offenen Augen da. In seinem Kopf toste noch die See. Hinter der Bretterwand klapperte ein Teller, und eine Stimme, wahrscheinlich die des Beobachters, flüsterte: „Morgen schicken wir die jungen Naturfreunde nach Hause. Wie hat sich denn deiner gemacht? Alles überstanden? Muß doch schwer sein für so einen Knirps, zweimal vierundzwanzig Stunden..."
„Er ist kein Knirps", berichtigte ihn der Ornithologe. „Weißt du was, wenn ich nicht irre, ist bei uns eine Laborantenstelle frei? Bis September behalte ich ihn hier."
„Im Labor?"
„Ja."
„Diesen Knirps! Wo Sie sogar der Studentin einen Korb gegeben haben."
„Er ist kein Knirps. Ich behalte ihn hier. Wenn er, natürlich nur, wenn er will."
Viktor setzte sich aufrecht und lehnte den Rücken gegen die Wand. In dieser Stellung verharrte er lange, bis die beiden hinter der Scheidewand verstummten.
Auf dem Fußboden prusteten einträchtig die Jungen. Viktor legte sich auf den Bauch und zog einen von ihnen am Bein.
„Wowka", flüsterte er, „Wowka, hör mal, was ich dir zu sagen habe."
Wowka hob den Kopf, blickte Viktor mit schlaftrunkenen Augen an und kuschelte sich wieder ins Kissen.
Viktor schnippte ihn leicht mit dem Finger an den Hinterkopf. Dann ging er hinaus auf die Treppe.
Zu schlafen hatte er keine Lust.
Geweckt wurde Pawlik von einer fetten Hummel. Sie kurvte vor dem Fenster und flog mit unwilligem Gebrumm mehrmals gegen die Scheibe. Pawlik kroch aus dem Bett. Er stieß beide Fensterflügel auf. Mit sanftem Klatschen schlugen Blätter gegen die Scheiben. Ein taukühler Fliederzweig kam ins Zimmer gekrochen, schüttelte mehrere Tröpfchen auf das Fensterbrett. Husch, stob die Hummel davon, in der Morgensonne wie eine goldene Glasperle leuchtend, bis sie verschwand.
„Dumme Hummel!" murmelte Pawlik.
Er trat an den Waschtisch, kippte etwas Wasser in die hohle Hand und rieb sich damit die Stirn und eine Gesichtshälfte ab. Seine Sorgenfalten hatten sich geglättet.
Wenn er den Zeigern auf der Wanduhr glauben Schlupfloch nicht fand.
Heute war alles erlaubt, auf einem Floß zu fahren, an den Fluß zu laufen, an den Teich, an die Bahn. Wenn man das Ohr auf die Schienen legte, hörte man das Geräusch des nahenden Zuges. Pawlik wußte nicht, was er zuerst tun sollte. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Am liebsten hätte er alles auf einmal getan.
Er erhob sich und ging auf die Straße.
Hinter dem dürftigen Zaun des Nachbarhauses grub ein Junge mit auffallend hellen Wimpern den Garten um.
„Shoka, he, Shoka!" rief Pawlik.
Shoka schlug mit dem Spaten auf einen großen Klumpen ein und untersuchte interessiert das aufgelockerte Erdreich.
„Shoka", fragte Pawlik im Flüsterton, „Shoka, was machst du da — hm?"
„Würmer ausgraben. Siehst du das nicht?" Pawlik seufzte. Nach dieser Antwort stand bereits fest, daß mit Shoka heute nichts anzufangen war. Überhaupt, dachte Pawlik, ist er für mich bloß zu sprechen, wenn er nicht weiß, was er machen soll. Pawlik mag Shoka sehr und fürchtet ihn auch ein wenig. Was Shoka bestimmt, geschieht, da gibt es keine Widerrede. Shoka ist stark. Er kann Pawlik an den Armen packen und durch die Luft schleudern. Er ist gewandt, kann reiten.
„Laß mich mal graben", schlug Pawlik vor.
Wortlos legte Shoka den nächsten Erdklumpen auf die Seite.
„Gib doch her", drängte Pawlik.
„Laß mich in Ruhe. Ich habe so schon nichts geschafft. Gleich kommt Witka. Denkst du, ich will mit leeren Händen dastehn?"
„Du gehst wohl mit ihm?"
„Mit wem denn sonst?"
„Nehmt ihr mich mit?"
„Sonst noch was?" entgegnete Shoka von oben herab.
Pawlik druckste eine Weile herum, dann ging er weg.
„Ich habe ein Fischnetz", rief ihm Shoka nach, „und einen Angelhaken. Geschenke von einem Sommerfrischler."
Shoka wollte nur angeben. Pawlik dachte, er mache sich über ihn lustig, und war beleidigt. Er überlegte, was erst geschehen müßte, damit Shoka ihn um einen Gefallen bäte.
Angenommen, Shokas Haus würde abbrennen. Shoka käme zu Pawlik, um sich Pawliks Angel auszubitten. „Du hast doch ein Netz", würde Pawlik sagen. Shoka begänne zu weinen. Und zu schluchzen: „Ich habe gar nichts, rein gar nichts habe ich mehr, das Haus ist abgebrannt und alles, alles mit." Das wäre für Pawlik der Augenblick, wo er lachen könnte. „Weißt du noch, als du Fische fangen wolltest, hast du mich nicht mitgenommen. Von mir kriegst du nicht so viel."
Ganz deutlich stellte sich Pawlik dieses Gespräch vor.
Er sah Shokas bittendes Gesicht und lächelte. Vor Vergnügen schüttelte er den Kopf.
Auf dem Hof des elterlichen Hauses angekommen, ergriff Pawlik den Rechen und ging hinter den Schuppen, wo ein Haufen alter Sägespäne im Schatten lag. Er harkte die Späne auseinander. Auf der Erde wimmelte es von Würmern. Pawlik las sie gleichzeitig in zwei Blechdosen. Als sich hinter ihm Schritte näherten, wußte er: Das kann nur Shoka sein.
Er drehte sich nicht um.
„Wie geht das Geschäft?" fragte Shoka.
„Zwei halbe Büchsen sind es schon", erwiderte Pawlik.
„Schenkst du mir ein paar? Ich habe nur drei Stück. Gleich kommt Witka." Pawlik schnaufte. Shoka machte ein Gesicht, als wäre tatsächlich das Haus abgebrannt. Einfach zum Schreien.
Читать дальше