„Wenn du's dir verkneifen kannst, geh mal nicht an den See", sagte der Ornithologe mahnend, ohne sich umzudrehen, „du schreckst nur die Brut auf, das ist nicht gut."
Viktor dachte sich seinen Teil.
„Siehst du, wir können uns wieder aufs Ohr hauen.
Schade, jammerschade. Aber was willst du machen?
Legst du dich noch mal hin?"
Es war eine sehr persönliche Frage, und Viktor konnte sie nicht einfach übergehen.
„Nein", sagte er.
„Wenn du Hunger hast, schlaf."
Viktor war hungrig wie ein Bär. Am Vortage hatten sie zwar gefrühstückt, aber nichts eingesteckt. Sie wollten ja beizeiten zurück sein.
„Ich bin ganz satt", schwindelte er, getreu seinem Entschluß, stark zu bleiben.
Der Ornithologe trat ins Haus. Viktor hörte, wie die Bettfedern quietschten. Es klang unsagbar kränkend. Selbstverständlich wußte der Ornithologe keinen Rat, aber es war wohl nicht nötig, sich so aufzuführen.
„Wenn du feststellen willst, ob jemand auf See was taugt, mußt du bis zum nächsten Sturm warten", hatte der Ornithologe einmal gesagt. Nun war Sturm gekommen, aber es gab keinen Kampf, keine lauten Kommandos, nur das Tosen der Naturgewalten. Und das Quietschen der Bettfedern. Und ein erbärmliches Leeregefühl im Magen.
Der erste Tag auf der Insel verlief ohne Zwischenfälle.
Auch der nächste Morgen brachte nichts Neues. Viktor kroch durchs Gebüsch und pflückte eine Handvoll unreife, mattgrün schimmernde Heidelbeeren. Sie zogen ihm das Wasser im Mund zusammen, und das Zahnfleisch schmerzte.
Beide, der Junge und der Mann, schliefen eine Woche Vorrat. Und jetzt lag Viktor auf einem Haufen von verdorrtem Seetang. Da er nichts Besseres zu tun wußte, beguckte er sich die über der Stadt hängenden Rauchfahnen durchs Fernglas. In der Nähe der Fischfabrik lagen zwei Trawler vor Anker. Beide Schiffe gehörten der Naturschutzverwaltung. Wie, wenn sie nun in See stächen? Doch Viktor erwartete keine Hilfe. Ach wo, wie sollte jemand auf die Idee kommen, sie zu suchen? Auf keinen Fall schon heute.
Er setzte das Glas ab und studierte die Hinteransicht des Ornithologen, der seine grüne Wetterjacke trug. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Viktor begriff dies sehr gut. Aber daß der Mensch es fertigbrachte, auch in diesen Minuten er selbst zu bleiben und seelenruhig wie zuvor in seinem Notizblock zu kritzeln, war mehr als empörend.
Viktor stand auf und bummelte in den Wald.
„Daß du mir nicht an den See gehst!" ermahnte ihn der Ornithologe.
„Wo werd ich denn, dort ist doch die Brut", entgegnete der Junge herausfordernd. „Die Kleinen könnten vor Angst krepieren."
Der Ornithologe blickte ihm erstaunt nach. Dann vergrub er sich wieder in seine Schreibarbeit.
Als Viktor ein paar Meter gegangen war, versperrte ihm eine umgestürzte Birke den Weg. Noch steckte Leben in dem Stamm und in den grünen Blättern.
Irgendwo hatte er gelesen: Wenn man die Birkenrinde einkerbt, fließt süßer Saft heraus. Er griff in die Hosentasche, um nach dem Messer zu kramen, und fand — eine Praline. Vergessen war der Birkensaft. Was für eine wunderhübsche Praline! Noch dazu eine mit einer Erdbeere auf dem Papier. Langsam wickelte er die mit Schokolade überzogene Süßigkeit aus und legte sie auf die flache Hand. Betörender Erdbeergeruch kitzelte ihm die Nase.
Zwischen den Baumstämmen erblickte er den zu Stein erstarrten, unbeweglichen Rücken des Ornithologen. Da krampften sich seine Finger zusammen. Die Augen blieben starr auf den Mann gerichtet. Er schob die Praline in den Mund, zermalmte sie genußvoll mit den Zähnen, schwelgte im Gefühl seiner Rache und hatte nur den einen Wunsch, daß sich der Ornithologe umdrehen möge.
Dann rollte er das Konfektpapier zu einem Kügelchen zusammen, warf es in die Heidelbeerstauden und ging an den Strand.
„Komm mal her", rief der Ornithologe. Viktor trat heran.
„Sieh mal, wie der Tang im Wasser wieder zu leben beginnt. Dort drüben ist er noch tot, aber wo die Flut hinkommt, entfaltet er sich wie eine Blume."
Viktor blickte den Ornithologen erstaunt an.
„Sie sprechen mit mir, damit ich den Hunger nicht so spüre?"
„Ist's denn sehr schlimm damit?" „Ach wo."
„Dann nimm." Der Ornithologe zog ein zerdrücktes Stück Brot aus der Tasche.
Viktor spürte, daß er rot wurde, und legte die Hände auf den Rücken.
„Ich mag nicht", hauchte er.
„Hör mal, ich habe schon ärgeren Hunger ertragen müssen. Außerdem esse ich es sowieso nicht."
Er sagte es mit unveränderter Stimme, weder bittend noch fordernd, aber Viktor wußte: Essen wird er es bestimmt nicht.
Da streckte der Junge die Hand aus und nahm das Brot.
„Ich denke, morgen sind wir wieder zu Hause", sagte der Ornithologe.
Viktor trat einen Schritt zurück, wandte sich ab und ging rasch das Ufer entlang. Das Brot preßte er gegen die Brust. Die Beine waren jetzt stark und trugen ihn mit Leichtigkeit, fast mühelos, über die Steine. Das Hungergefühl und die Müdigkeit waren verschwunden, von unerträglicher Scham verdrängt.
Am Kap spürte er den Wind, der durch die Baumwipfel pfiff und von oben seinen Rücken peitschte. Über die schlüpfrigen, von Tang bedeckten Steine schritt er dem Wasser zu. Von hier sah er nur noch das Dach des Schutzhäuschens.
Er holte weit aus und schleuderte das Brot, so weit er konnte, ins Meer. Dann hockte er sich hin. Lange betrachtete er den zweihöckrigen Gipfel, der hinter den Fluten aufragte. Sieben Kilometer gischtende See trennten ihn von jener Insel. Dort drüben gab es Brot in Hülle und Fülle. Zwanzig Meter weiter schimmerte ein brauner Kanten. Die Strömung trieb ihn auf das Ufergeröll zu, und der Junge dachte, wenn das Brot ans Ufer gespült werden sollte, würde es schwerhalten, ein zweites Mal darauf zu verzichten, aber er dachte auch, daß er sich sehr tapfer geschlagen habe, und bei diesem Gedanken traten ihm Tränen in die Augen.
Viktor wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die kleine Insel. Dort waren sie vom Sturm überrascht worden. Er konnte sogar den großen Stein erkennen, in dessen Nähe ihn der kleine Schlangenadler gehackt hatte.
Daneben befand sich sein Nest, und ein Stückchen weiter, auf dem höchsten Punkt des Inselchens, nisteten im Holundergebüsch Eiderenten. Dort lagen in einem Körbchen aus Daunenfedern acht große, warme Eier.
Einer Eingebung folgend, sprang Viktor auf die Füße. Acht warme Rieseneier; dreihundert Meter bis zu einem herrlichen, dampfenden Gericht! Und er kann hinrudern, weil die Insel ihn vor dem Sturm schützt und die See auf diesem Abschnitt nicht so hoch geht.
Der Ornithologe saß im Boot. Mit einer Konservendose schöpfte er das Wasser aus. Durch die Wolkendecke blinzelte die Sonne. Sie beschien sein Gesicht, dessen Haut vom vielen Wind und Wetter rauh geworden war und dessen Backenknochen scharf hervorsprangen. Es war das Gesicht eines müden Menschen. Viktor las eine zweite Büchse auf, die am Ufer lag, und begann gleichfalls, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Er fürchtete die Frage, weshalb er fortgelaufen sei, aber der Ornithologe blieb stumm.
Erst nach geraumer Zeit sagte er: ,,In zwei Stunden haben wir volle Flut. Dann müssen wir das Boot ins Wasser schieben. Wahrscheinlich kriegen wir eine ruhige Nacht."
Viktor wollte jetzt nicht, daß sich der Sturm legte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, acht Rieseneier zu holen. Sie würden was zu essen haben, jeder vier. Nichts konnte ihn hindern, rüberzurudern, auch nicht der Sturm, selbst wenn er weiter zunehmen sollte.
Die Wellen züngelten die trockenen Steine hinauf und schwappten zurück ins Meer. Jede Woge kam ein kleines Stückchen weiter als ihre Vorgängerin, doch alles in allem stieg die Flut qualvoll langsam. Viktor kehrte sich ab. Als er wieder hinschaute, schwamm das erste Bändchen Blasentang bereits im Wasser. Bis zur vollen Flut verblieben noch anderthalb Stunden.
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