Die volle Flut trat pünktlich ein, kündigte sich mit einem weithin tönenden Schlag gegen das Heck des Bootes an.
„Zugepackt", gebot der Ornithologe, „bloß paß auf, daß du dich nicht überanstrengst, sonst wird dir schwindlig."
Viktor ergriff eine Holzstange. Er stemmte sich aus Leibeskräften dagegen, bis der steinige Strand und das Meer Karussell zu fahren schienen und bunte Kreise vor seinen Augen schwammen.
„Jetzt müssen wir warten, bis das Wasser zurückgeht", erklärte der Ornithologe, „dann stoßen wir das Boot allmählich runter. Ich passe schon auf. Du kannst dich inzwischen hinlegen. Wenn es soweit ist, rufe ich dich."
Viktor war es recht. „Ich lege mich gleich hin. Nur, ich habe zehn tote Kücken gesehen. Beinah hätte ich vergessen, es Ihnen zu erzählen. Unten, am See, wo das Futterhäuschen steht. Sie treiben auf dem Wasser."
„Was für Kücken? Das ist doch dummes Zeug!"
„Nein, zehn Stück, sie schwimmen mit dem Bauch nach oben", wiederholte Viktor eigensinnig.
Diese Lüge hatte er sich vorher zurechtgelegt.
„Komm, zeig sie mir."
„Bei mir dreht sich alles wie ein Karussell", wandte Viktor ein.
Und das war keine Lüge. „Am Futterhäuschen?"
„Ja."
„Ich bin gleich zurück", versprach der Ornithologe.
Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, als Viktor das Boot ins Wasser schob. Er ruderte schnell, um aus der Bucht heraus zu sein, bevor der Ornithologe zurückkam.
Hier war das Wasser verhältnismäßig ruhig. Von der See her rollten nicht allzu hohe Wellen heran. Wo es ins offene Meer hinausging, hielt Viktor inne. Vorn, ganz nahe, nur durch eine unsichtbare Linie getrennt, schäumten lärmende Brecher auf die Insel zu. Sie kamen langsam und unaufhörlich, in endloser Folge.
Viktor hob unentschlossen die Riemen, ließ sie sinken, hob sie wieder und begriff, daß er den letzten Mut verlieren und umkehren würde, wenn er noch ein paar Sekunden zögerte. Er schaute zurück zum Ufer und erblickte den Ornithologen, der stolpernd über die Steine rannte und etwas schrie. Da legte sich der Junge in die Riemen. Er durchbrach die heimtückische Linie.
Eine Woge packte das Boot, hob es mit Leichtigkeit, aber zugleich mit unwiderstehlicher Gewalt empor. Dann stieß sie den Bug genießerisch ins Wasser. Das Ufer vollführte einen hüpfenden, wiegenden Tanz. Ein Abgrund tat sich auf. Das Boot stürzte hinein. Über dem Rand wuchs eine grüne Wand aus geäderten Blasen und Schaum empor. Erschaudernd schlug Viktor beide Riemen hinein, und langsam kroch das Boot nach oben, schwang sich auf den Kamm einer neuen Woge und klatschte mit dem Boden abermals in den sich öffnenden Schlund.
Das Wasser lief unter den Riemen davon. Viktor versuchte, die zurückweichenden Massen zu fangen, sich gegen die hochwachsenden Wellenberge zur behaupten. Er hatte Angst, solche Angst wie noch nie im Leben. Wirre, unzusammenhängende Gedanken kreuzten durch sein Hirn. O ja, er hatte viel Schlimmes getan, sich gegen die Mutter versündigt, den Menschen fortzulocken.
Viktor legte die acht schweren, warmen Eier in seine Mütze und machte sich auf den Rückweg zum Boot. Er spürte, wie die Beine merkwürdig weich wurden und wie sie einknickten.
Dann begann alles von vorn.
Wieder schaukelte das Boot und legte sich auf die Seite. Wieder tanzten Himmel und Ufer. Und der tosende Wasserstreifen am Eingang der Bucht. Und die komische weiße Menschengestalt am Kap. Viktor ruderte das Boot in die Bucht. Der Ornithologe stand am Strand. Er trug nichts als seine Unterwäsche. Er hat sich ausgezogen, dachte der Junge, ausgezogen, weil er schwimmen wollte. Jetzt war er nahe daran, diesen Menschen ins Herz zu schließen.
„Hast du den Unfug mit den toten Vögeln ausgeheckt, um ein bißchen spazierenzufahren?" frag'e der Ornithologe leise.
„Jawohl", entgegnete Viktor. „Jawohl", wiederholte er klangvoll, denn jetzt war er glücklich. „Sonst hätten Sie mich doch nicht fortgelassen."
„Du bist ein Schuft", sagte der Ornithologe. Er drehte sich um und ging, ohne noch ein Wort zu verlieren, auf die Tür zu.
„Warten Sie doch", rief ihm Viktor nach, „sehen Sie, was ich gebracht habe!" Unangenehme Gedanken blitzten in ihm auf: Er versteht mich nicht, er denkt, daß ich nur so...
Der Ornithologe war stehengeblieben. Viktor lief zu ihm hin. Er streckte die Hände aus, die die Mütze hielten, blickte dem Ornithologen in die Augen und lachte, um zu zeigen, daß er nichts übelnahm.
„Soso", meinte der Ornithologe, und Viktor sah, daß sich sein Gesicht mit roten Flecken bedeckte, „sag mal, wer hat dir das Recht gegeben, die Nester zu plündern, 'die wir pflegen? Mich haben sie sogar im Krieg freigestellt. Verstehst du? An der Front sterben Menschen, aber mich haben sie nach Hause geschickt, weil es hier keinen gab, der sich um die Vögel kümmern konnte. Weißt du überhaupt, daß nur ein paar hundert Eidernester existieren? Und daß unser Naturschutzgebiet das einzige in der Sowjetunion ist, wo noch Eiderenten brüten?"
Viktor schwieg verlegen. Die zornigen, ungerechten Worte des Ornithologen hatten ihn wie Peitschenhiebe getroffen.
„Weißt du, daß unsere Arbeiter wochenlang nicht aus den Booten kommen? Seit fünfzehn Jahren lebe ich hier. Als ich herkam, warst du noch nicht geboren. Biologe willst du werden? Du bist ein junger Naturfreund? Das bildest du dir vielleicht ein. In Wahrheit bist du ein Wilddieb. So, du hast Hunger. Ganze zwei Tage haben wir nichts gegessen, ganze zwei Tage. Und die Eiderente brütet einmal im Jahr. Du bildest dir wohl ein, daß du eine Heldentat begangen hast? Wie ein Feigling hast du dich benommen! Von deinem Magen hast du dich unterkriegen lassen."
Viktor war zerknirscht, beleidigt, stand mit gesenktem Kopf da und schwieg, weil er fürchtete, in Tränen auszubrechen.
,,Das Nest dort drüben hast du ausgenommen?" fragte der Ornithologe.
,,Doch nicht für mich." Viktor schluckte und sprach nun lauter: „Ich wollte Ihnen ... Ihr Brot habe ich nicht gegessen. Ins Meer habe ich es geschmissen."
„Was?"
„Ich bin kein Wilddieb. Verstehen Sie", schrie Viktor jetzt, „meinetwegen können Sie an Ihrem Brot ersticken!"
Der Ornithologe seufzte, ging langsam zum Boot, breitete seine Wetterjacke auf den Boden und wickelte die Eier ein. Dann zog er Hosen und Stiefel an, stieß das Boot ab und sprang hinein. Der irrsinnige Gedanke, daß er es darauf abgesehen haben könnte, sich zu ertränken, durchzuckte Viktors Hirn.
„Was machen Sie denn?" fragte er ängstlich.
„Ich schaffe die Eier fort", erwiderte der Ornithologe, der seine alte Ruhe zurückgefunden hatte, „marsch, ins Haus, und ohne Tricks. Klar?"
„Nein, es ist nicht klar", entgegnete Viktor und blieb am Ufer. Das Boot verschwand ums Kap. Viktor ging ein Stück weiter, stellte sich hinter einen Baum und beobachtete den Ornithologen. Die Wellen spielten mit dem Boot, das ständig zu kentern drohte. Viktor preßte die Brust an den Stamm, und jedesmal, wenn sich das Boot auf die Seite legte und vom Kamm einer Woge in den Abgrund stürzte, stockte ihm das Herz. Mit Entsetzen dachte er an die Möglichkeit, daß der Ornithologe nicht wiederkommen würde.
Aber er kam wieder. Zweimal legte er die Strecke zurück. Dann kroch er, von Seewasser durchtränkt, ans Ufer. In den Händen hielt er die zusammengerollte Wetterjacke. Was nun folgte, war das komischste von allem.
Der Ornithologe trat ins Haus, nahm ein Bündel Tang und eine mit Wasser gefüllte Konservendose mit. Das Wasser kippte er auf die Herdplatte, die er sorgfältig säuberte. Danach trug er Reisig herein, zerbrach es auf den Knien. Die trockenen Holzstücke und den Seetang setzte er in Brand. Viktor hatte sich aufs Bett gelegt und sah dem sonderbaren Treiben mit Erstaunen zu. Wenn der Ornithologe den Kopf wandte, schloß er die Augen.
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