In naher Zukunft wird Sascha Campi die letzten Schritte vor seiner Freiheit durchlaufen, Urlaube, zunächst begleitet, später ohne Begleitung, weitere Vollzugslockerungen. Und in naher Zukunft wird er sich wieder auf freier Wildbahn finden. Ich bin überzeugt, dass es dem in seinem Milieu und in seiner Umgebung vom Fuchs zum Wolf gemachten gelingen wird, den Weg als Fuchs zurück zu finden, um schliesslich wieder ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft zu sein.
Zürich, im Mai 2018
Valentin Landmann
In den frühen Morgenstunden des 10. Februars 2012 ereignete sich im Zürcher Kreis 4, an der Langstrasse ein schrecklicher Verkehrsunfall. Ein junger Lenker fuhr unter Alkoholeinfluss mit seinem Chrysler M 300 in eine Gruppe von Menschen und anschliessend in die Fassade der Lambada Bar. Bei diesem schrecklichen Unfall verstarb eine Person und mehrere wurden schwer verletzt. Das Ereignis schlug mediale Grosswellen und die Titelseiten brannten bereits am selben Morgen. Ob Amokfahrt, Bandenkrieg oder Racheakt; es wurde in den Medien über alles spekuliert. Kurz darauf ergab sich, dass der Unfalllenker vorgängig in eine Auseinandersetzung mit einer Frau geriet. Er habe sie mit einer Eisenstange geschlagen, später wurde gar von Vergewaltigung gesprochen. Medial wurde ein Unmensch generiert und nach Monaten doppelte die Blickzeitung mit folgender Schlagzeile nach: «Blick weiss! Er war bereits im Kanton Solothurn straffällig, es ging um Sex!» Der Unmensch war durch ein hängiges Verfahren aus der Vergangenheit erneut bestätigt und die Meinungen waren gemacht. Auch die Fotos sprachen Bände. Man sah einen Milieu-Typen im Anzug, sah ihn mit Samba-Tänzerinnen, mit Alkohol, mit Tattoos und mit dunklen Gestalten. Der Unmensch war eindeutig zu erkennen. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn zu 15 Jahren. Gesamthaft stand er sogar mit 18 Jahren Haft da. Anfangs 2015 erschienen noch einzelne kleinere Meldungen, weit von der Titelseite entfernt: Der Todesfahrer wurde von den Vergewaltigungsvorwürfen freigesprochen. Das Obergericht rügte die Vorinstanz in einem ungewohnt hohen Mass und bezeichnete das Urteil als in keiner Weise nachvollziehbar.
Das Urteil reduzierte sich durch Freisprüche auf 7 ½ Jahre, und es entstand eine spätere Gesamtstrafe von 8 Jahren und elf Monaten. Warum änderte sich die Strafe so massiv nach unten? Wer ist dieser Mensch und was ist überhaupt geschehen?
Dieser Mensch bin ich. Mein Name ist Sascha Campi und ich habe fahrlässig einen Unfall mit schwersten Folgen verursacht, wobei eine Person starb und mehrere verletzt wurden. Ich habe eine Frau geschlagen; um genau zu sein, in meinem Leben zwei. Beide mal stand ich vor Gericht. Doch wie kam es dazu? Wer steckt hinter dem medial generierten Unmenschen und was waren die Umstände und Ursachen, welche zur Tat führten? Durch verschiedene Medien wurde ich vom Fuchs zum Wolf stilisiert . Zudem wurde ich beinahe zu insgesamt 18 Jahren fehlverurteilt. Bis heute kennen nur wenige Menschen das Geschehene und mich. Auch die Opfer des Unfalls und die Angehörigen des Verstorbenen kennen weder mich, mein Wesen, mein Leben oder die genauen Umstände des Hergangs. Dies möchte ich ändern.
Dies ist meine Geschichte.
Die meisten Menschen leben in der sogenannten Oberwelt , was man auch gerne scherzhaft als 0815 Leben bezeichnet, in welchem man seinen festen Strukturen und Gewohnheiten folgt, welche stets auf die allbekannte, aber auch utopische Perfektion ausgerichtet ist. Man absolviert eine Ausbildung, sucht sich eine feste Arbeitsstelle und bildet sich nach Möglichkeit weiter um aufzusteigen. Auch im Familienleben stellt sich ein Grossteil der Oberweltler ihren Wecker, respektive ihre innere tickende Uhr. Sie wissen meist schon genau, in welchem Lebensabschnitt der Nachwuchs ins Leben treten soll. Im Gegensatz zu dieser Art des Lebens gibt es noch eine andere Sorte von Erdenbürgern; die Halbweltler . Hierbei handelt es sich um Menschen, die teil- oder vollzeitig im Nachtleben, sprich im Milieu tätig sind. Es sind Menschen, die meist nie oder eher selten in ihrer Branche eine Ausbildung genossen haben und die auch nicht über den Businessplan eines 0815 Lebens verfügen. Es sind Menschen, die meist in den Tag hineinleben und ihre Ziele oft variieren lassen. Im Gegensatz zu den Oberweltlern suchen sie den Kick, das Abenteuer, die Auffälligkeit und geniessen das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Klar treffen nicht alle diese Punkte auf jeden Halbweltler zu, doch sind dies die oftmals in der Bevölkerung gängigen Klischees, mit denen man die Nachtmenschen beschreibt. Jeder Mensch entscheidet selbst, zu wem er gehören möchte, erkennt selbst, was ihm liegt und wo er sich sicher und geborgen fühlt. Jetzt wird der eine oder andere kritische Leser nicht ganz einverstanden sein und sofort an Zwangsprostitution oder Ausnutzung denken, doch dies sind Randthemen und Seltenheiten, genau wie die Manager- und Bankenskandale in der Oberwelt. Fakt ist jedoch, dass ein jeder die Wahl hat, zumindest hier in unserer Heimat der Schweiz, wie auch in unseren Nachbarstaaten. Jede Prostituierte könnte jederzeit ihren Beruf an den Nagel hängen und beispielsweise als Reinigungskraft arbeiten, müsste dabei allerdings einen verminderten Verdienst in Kauf nehmen. Aber auch dies liesse sich später wieder ausgleichen, zum Beispiel in der Selbstständigkeit mit eigenem Reinigungsunternehmen. Man muss dafür Kapital aufbringen, man muss sparen, muss lange unten durch, doch die Möglichkeit ist real. Schlussendlich ist alles eine Frage des Willens, der Zielsetzung und vor allem der Ausdauer. Auch einem Mann, der als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeitet, bleiben viele Chancen nicht vorenthalten. Zugegeben, dass er als Chef einer Grossbank endet, ist eher unwahrscheinlich, jedoch gäbe es auch hier genug realitätsnahe Ziele, die ihm zur Verfügung stehen. So kann auch er sparen, Investoren suchen, eine Zeit lang unten durch und schlussendlich ein Kleinunternehmen gründen. Rentiert es dann und ist erst einmal Kapital vorhanden, so kann er auch ungeniert den Sprung in eine neue Branche wagen, eine neue Herausforderung in Angriff nehmen. Oft gibt es daher auch Menschen, welche die eine Welt als Sprungbrett für die andere gebrauchen. Zum Beispiel eine Frau, die in der Oberwelt als Putzfrau arbeitet, sich Ersparnisse zulegt und anschliessend in der Halbwelt eine Bar oder ein Etablissement eröffnet. Oder ein Mann, der als Security arbeitet, sich Ersparnisse zulegt und damit eine Reinigungsfirma gründet. Die Sprungbretter können in eine Parallelwelt führen. Jedoch ist dies eher selten der Fall, da man oft in seiner gewohnten Welt bleibt. Fakt ist zudem, ob in der 0815er Welt oder im Nachtleben, es bleibt beiden Bewohnern der Welten nichts vorenthalten. Ein klarer Unterschied gibt es allerdings zwischen den Welten: die Geschwindigkeit um das Mögliche zu erreichen. So ist das schnelle Geld im Nachtleben simpler zu machen, zumal auch die Möglichkeiten zu nicht versteuertem Einkommen grösser sind als in der Oberwelt. Doch alles was schnell gehen soll, hat meist nur geringe Chancen und dementsprechend ist auch die Wahrscheinlichkeit eines geschäftlichen Untergangs, sprich einer Insolvenz, schneller und öfters erreicht, als sich manch einer je denken könnte. Daher ist es oft besser, sich auch in der Halbwelt Zeit zu lassen, wofür das altbewährte Sprichwort passt: Gut Ding will Weile haben . Oft gibt es aber auch Menschen, welche sich nicht durch Insolvenz oder Misserfolge zu einem Weltenwechsel entscheiden, sondern durch alters- oder familienbedingte Gründe. Zum Beispiel ein Türsteher, der frisch Vater wurde und sich aus finanzieller und physischer Sicherheit für einen Job auf dem Bau entscheidet. Oft ist auch die Zeit ein Faktor, so könnte der Türsteher auch zeitlich bedingt, einen Wechsel tätigen, da er so die Abende gemeinsam mit seinen Kindern verbringen kann. Gerade bei Frauen ist die Zeit oft der Hauptgrund für einen Sprung in die Parallelwelt. Es gibt viele junge Mütter, die ihren Job als Lebensmittelverkäuferin aufgeben, sich als Barmaid bewerben, um den Tag mit ihrem Kleinkind verbringen zu können. Wird das Kind älter, kann auch oft ein Retourwechsel erfolgen. Sobald das Kind zur Schule geht und am Tag nicht zu Hause ist, wird oft die Option des erneuten Verkaufsjobs in Erwägung gezogen. Somit gibt es nicht nur definitive Sprünge in eine Welt, sondern auch zeitliche Weltenwechsler. Was allerdings eine Seltenheit ist, sind Menschen, die über eine längere Zeit oder gar stetig, in beiden Welten gleichzeitig tätig sind. Hier finde ich den Ankerpunkt, den Anfangspunkt für meine Geschichte, denn genau dieses Leben führte ich. Ich führte ein Leben in zwei Welten.
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